Ob es in der Geschichte der Menschheit je ein goldenes Zeitalter frauenbestimmter Kultur gegeben hat, ist umstritten. Bachofen hat es behauptet und viele Forscherinnen und Forscher nach ihm. Andere haben es bestritten und vom "Mythos des Matriarchats" (Uwe Wesel) gesprochen. Wie dem auch sei, wie immer die frauenbestimmten Gesellschaftsformen ausgesehen haben mögen: Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß sich die Entwicklung der Menschheit seit Tausenden von Jahren in patriarchaler Form vollzogen hat - ein Umstand, unter dem Frauen nicht nur ihre Ruhe fanden, wie es ein Bibeltext behauptet (Ruth 1,9), sondern unter dem sie gelitten haben, weil er sie ihrer Rechte als gleichberechtigte Partnerinnen des Mannes beraubte.
In der Bibel findet sich ein interessanter Niederschlag der wohl mit Recht vermuteten Ablösung des Matriarchats durch das Patriarchat. Es handelt sich um die Geschichte von Rahab, wie sie uns im Buch Josua in den Kapiteln 2 (Verse 1-24) und 6 (Verse 17-25) überliefert ist.
Auf den ersten Blick ist das eine schreckliche "Männergeschichte": An einer Stadt wird der "Bann" vollzogen "mit der Schärfe des Schwerts, an Mann und Weib, jung und alt, Rindern, Schafen und Eseln" (Josua 6,21). Nur die "Hure" Rahab bleibt verschont, "weil sie die Boten verborgen hatte, die Josua gesandt hatte, um Jericho auszukundschaften" (Josua 6,24).
Aus der Sicht des männlichen Erzählers erklärt diese Geschichte u.a. die Existenz der Prostitution in Israel und gibt ihr eine höhere, nationale Weihe.
Aber unter der Oberfläche dieser "Männergeschichte" ist eine ganz andere, eine "Frauengeschichte", verborgen. Die "Hure" Rahab ist nämlich eigentlich Priesterin am Tempel einer Muttergottheit, die mit den sie besuchenden Männern die "Heilige Hochzeit" vollzieht. Überzeugende Argumente für diese These finden sich bei Jörg Zink in seinem Buch "Licht über den Wassern. Geschichten gegen die Angst" (Stuttgart 1978, S. 124-153).
Rahab "weiß" aufgrund ihrer priesterlich-weiblichen Intuition, daß in den heranziehenden Israeliten eine neue Macht erscheint, der die Zukunft gehören wird: "Ich weiß, daß der Herr euch das Land gegeben hat; denn ein Schrecken vor euch ist über uns gefallen, und alle Bewohner des Landes sind vor euch feige geworden." (Josua 2,9) Das gilt aber nicht nur in militärischer, sondern auch in religiöser Hinsicht: "Seitdem wir das gehört haben, ist unser Herz verzagt, und es wagt keiner mehr vor euch zu atmen; denn der Herr, euer Gott, ist Gott oben im Himmel und unten auf Erden." (Josua 2,11)
Rahab, die Priesterin am Tempel einer Muttergottheit, "weiß" aufgrund ihrer Erfahrung, daß sich nun die "Vermählung" des Himmelsgottes mit der Erdgöttin vollzieht. Als ihre "Gabe" bringt sie dabei "Barmherzigkeit" (von hebräisch rhm = Mutterschoß) mit ein in der Hoffnung, daß die "Kundschafter" auch ihrerseits Barmherzigkeit und Treue üben.
In dieser Deutung wird die Geschichte zu einer verschlüsselten Botschaft an alle Männer: sie, die dereinst von einer Mutter geboren wurden oder, um im Bild unserer Geschichte zu bleiben, "am roten Seil durchs Fenster herniedergelassen" wurden, mögen der Barmherzigkeit rachamim (des Mutterschoßes rächäm) eingedenk sein, wenn sie ins Reich der Mütter eindringen, eine Frau, eine Stadt, die Natur oder die Welt erobern. Es geht im Leben nicht ohne diesen "Vorgang" ab, aber er soll in "Barmherzigkeit und Treue" gegen Rahab geschehen, damit die Männer nicht unversehens selbst des Todes sind.
In der biblischen Erzählung versprechen die Kundschafter diese Barmherzigkeit und Treue, und Josua hält sich daran. Aber in der Geschichte der Menschheit haben die Männer bei ihren Eroberungen und Streifzügen die Barmherzigkeit und Treue gegen Rahab vergessen und in großer Selbstherrlichkeit die Heilige Hochzeit zwischen Himmelsgott und Erdgöttin verraten. Sie blicken nur auf ihre eigene Potenz und spalten sich ab von den Kräften des Mütterlichen, der Barmherzigkeit und der Liebe.
So wie die Kundschafter in ihrem Bericht an Josua protzen sie nur mit ihrem vermeintlich ganz allein erzielten Erfolg und ziehen das Göttliche in dieses unverständige Macho-Gehabe mit hinein: "Der Herr hat uns das ganze Land in unsere Hände gegeben, und es sind auch alle Bewohner des Landes feige vor uns geworden." (Josua 2,24) Sie verstehen nichts von der Vermählung zwischen "Gott oben im Himmel und unten auf Erden"; sie verstehen nichts von der Liebe. Und das ist der springende Punkt an der ganzen Geschichte.
Erst ein anderer "Josua", Jesus von Nazareth, hat sein Rahab-Erbe verstanden und Barmherzigkeit und Treue erwiesen an allen Menschen, besonders aber an den Frauen. Er "weiß" wie Rahab, daß die Erde einst den Sanftmütigen gehören wird (Matthäus 5,5), denen, die darum bitten, daß Gottes Wille geschehen möge "wie im Himmel so auf Erden" (Matthäus 6,10).
Sie werden fragen, was ich mit dieser Geschichte zum Ausdruck bringen will. Mit Rahab möchte ich sagen: Es war nicht zu verhindern, daß die Israeliten Jericho erobert haben. Wie es wohl überhaupt niemals zu verhindern sein wird, daß Männer Frauen und Städte und die Welt erobern wollen und auch tatsächlich ihr Ziel erreichen. Das gehört zu ihrem biologischen Erbe und zu ihrer geschichtlichen Aufgabe. Aber alles kommt darauf an, wie sie es tun und ob sie dabei kreativ oder kriegerisch vorgehen. Für die gewaltsame Eroberung, noch dazu mit tödlichen Waffen, gibt es keine Entschuldigung. Und insofern das Patriarchat die Männer immer wieder dazu erzieht, gehört es abgeschafft und überwunden.
Aber die einfache Rückkehr zur großen Mutter, zu matriarchalen Verhältnissen, ist auch keine Lösung. Wir wollen und können das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen und sollten uns auch psychologisch nicht in eine schwere Regression begeben - das alles wird zu teuer bezahlt. Aber wir können eine geschwisterliche Gesellschaft entwickeln, die uns erlaubt, friedlich und barmherzig miteinander umzugehen.
Unser Gottesbild, unser Verständnis von Geschichte wird sich daran zu orientieren haben. Das Gedächtnis der Opfer einer grausamen patriarchalen Geschichte, eine memoria passionis auch und gerade der Frauen, gehört dazu - und der Blick in eine noch zu erringende Zukunft, in der Verbundenheit statt Abspaltung das Zusammenleben der Menschen bestimmt.