Leserbrief an Wolfgang Vorländer
Sehr geehrter Herr Vorländer,
zugegeben: für die Beziehung zwischen Jesus und den Gläubigen ist die Überlieferung des leeren Grabes nicht unbedingt notwendig, ja vielleicht (gerade bei modern denkenden Menschen) ein Glaubenshindernis, weil etwas geschehen sein soll, was der Verstand nicht begreift. Sie vermuten gar: "So wie das leere Grab als solches keineswegs Osterglauben hervorgerufen hat, hätte das 'volle Grab' die Gewissheit, dem Auferstandenen begegnet zu sein, doch wohl kaum ins Unrecht zu setzen vermocht."
Jesus wird durch Ihren Beitrag ganz an die Seite der Menschen gerückt. Auch für ihn gilt, was für alle gilt: "Das Totsein Jesu darf (aus apologetischen Gründen) nicht als ein qualitativ anderes aufgefasst werden als alles sonstige biologische Totsein, was wissenschaftlich auch völlig unhaltbar wäre. Verwesung ist eine Folge des eingetretenen Todes, nicht dessen Steigerung. ... Auch bei Jesus erlosch mit seinem Tod alles, was die neurobiologische Grundlage seines Lebens und seiner Person ausmachte." Also: Keine gute Nachricht für Jesus - schlechte Nachricht für alle anderen Verstorbenen. Im Tode sind sie alle gleich: "Für das heutige, naturwissenschaftlich geprägte Denken kann der Tod des Menschen nur als Ganztod verstanden werden."
Was ist dann aber mit der Auferstehung? Sie erwägen (wie die anderen Vertreter der Ganztodtheorie) als Kontinuum zwischen Jetzt und Dann das "Gedächtnis Gottes" und vertrauen allein auf eine Neuschöpfung des Menschen durch Gott, die Sie angesichts der neurobiologischen Erkenntnisse u.a. von G. Hüther und K. Grewe (die von Ihnen genannte Belegstelle habe ich nicht finden können) aber gleich wieder in Zweifel ziehen: "Für das Gehirn als biologisches Substrat gilt, dass selbst ein Gott es schwerlich an einem Tag erschaffen haben kann" - und an einem Tag wieder erschaffen könnte, so muss man wohl ergänzen. "Das menschliche Gehirn ist ohne Zweifel das komplexeste Gebilde, das die Natur hervorgebracht hat. In ihm ruht die akkumulierte Weisheit von 500 Millionen Jahren Evolution." Und daraus folgt: "Das Gehirn wäre keine Entität, deren Inhalt oder Eigenart Gott im Akt eschatologischer Neuerschaffung gewissermaßen einfach 'nachbauen' oder auf einen eschatologischen Leib 'überspielen' könnte. Unser Gehirn ist nach Aussage der gegenwärtigen Forschung weder nur die installierte Hardware, noch die darauf applizierte Software, sondern das Lebensbuch, das wir schreiben, die sich unablässig vollziehende Lebenskomposition, die uns zu dem macht, was wir schließlich geworden sind." Gute Nachrichten also für die Natur, für die Evolution und für den Menschen - schlechte Nachrichten für Gott.
Ob es nicht doch sein könnte, dass er das Lebensbuch schreibt und wir daran nur mitschreiben? Ob es nicht doch so sein könnte: Gott stellt Hardware und Software zur Verfügung, programmiert und schreibt das Lebensbuch. Er kann die Hardware zerstören und die Software zu sich nehmen und auf neuer Hardware wieder laufen lassen? Es gibt zweifellos im menschlichen Leben eine neurobiologische Grundlage im Gehirn, die wissenschaftlich erforscht werden kann, aber schließt das Gottes Handeln aus?
Betrachten wir also nun die Beziehung, die Jesus (und zunächst einmal: nur er!) zu Gott hatte. Er hat mit seinem Leben wirklich gemacht, was in der Schrift steht; ja, in seinem Kreuz am Tod ist überhaupt erst in Erscheinung getreten, wovon der Prophet spricht: "Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen ..." (Jesaja 53,4). Man könnte die ganze Lebensgeschichte Jesu nacherzählen mit Abschnitten und Wendungen aus dem Alten Testament. Er phantasierte und träumte keinen Gott, wie ein anderer Religionsstifter das nach ihm tat, er war einfach nur gehorsam gegenüber dem Vorgefundenen und setzte es in Kraft: "Heute ist dieses Wort der Schrift erfüllt vor euren Ohren." Eine Beziehung hat aber immer zwei Pole.
Betrachten wir also Gottes Rolle in dieser Sache. Es hat ihm schon vor der Geburt Jesu gefallen, Ort und Zeit und Person auszuwählen für sein Vorhaben. Und Maria sagte bekanntlich "fiat": Es möge geschehen. (Bekanntlich gibt es ja auch andere Antworten auf solche Herausforderungen.) Sie hat ihrem Sohn das Magnifikat vorgesungen und damit seinen Glauben und sein Vertrauen entscheidend grundgelegt. Und nun am Ende übergibt sich dieser gehorsam Vertrauende in Gottes Hand: "Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist."
Nun ist es an Gott, seinen Teil der Lebens- und Liebesbeziehung zu diesem Sohn zu erfüllen. Wie geschrieben steht: "Du wirst mich nicht dem Tode überlassen und nicht zugeben, dass dein Heiliger die Grube sehe" (Luther übersetzt: verwese), heißt es in Psalm 16,10. Noch vieles andere wäre anzuführen, was Auferstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft aus der Treue Gottes zu seinem Wort erklärt. Und wir wollen uns in diese Liebesbeziehung zwischen Gott und Jesus einmischen und sagen: Was für ihn gilt, gilt auch für uns. Oder: Was für uns nicht gelten kann, kann auch für ihn nicht gelten? Das Wunderbare ist: Es ist etwas Neues (und zuvor Gehörtes!) geschehen, an dem wir auf unsere Weise später Anteil haben sollen.
Zuerst wurde es wahr an Maria: Der so von Gott geliebte Sohn (der durch sein Leiden, Sterben und Auferstehen Anteil an der Gottheit gewann und auf diese Weise Gott für uns auf immer verwandelte!) ertrug nicht das Todesschicksal seiner Mutter und zog sie zu sich. Auch da blieb am Ende ein Grab leer. "Sie verduftete, die schönste Rose der Welt", dichtete Wilhelm Willms. Und wir dürfen im Glauben hier und im Schauen dort daran Anteil haben.
Was weiß Neurobiologie schon von Liebesbeziehungen - außer, dass in der Liebe immer auch unsere biologischen Grundlagen betroffen sind? Niemand kann und will das leugnen. Aber die Liebe und das Erfüllen von Versprechungen haben wir damit noch nicht verstanden. Benedikt XVI. hat recht: "Auferstehung schließt wesentlich mit ein, dass der Leib Jesu nicht der Verwesung verfiel. In diesem Sinn ist das leere Grab als Teil der Auferstehungsverkündigung ein streng schriftgemäßes Faktum. Theologische Spekulationen, nach denen Verwesung und Auferstehung Jesu miteinander vereinbar seien, gehören dem modernen Denken zu und stehen im klaren Widerspruch zur biblischen Sicht."
Mit freundlichem Gruß, Ihr Peter Godzik
Leserbrief zu:
Tod und Sterben: Die theologische Relevanz des leeren Grabes im Kontext von Eschatologie und Neurobiologie, von Wolfgang Vorländer, Deutsches Pfarrerblatt 4/2011
Wilfried Härle, Braucht der Osterglaube das leere Grab? In: ders., Spurensuche nach Gott. Studien zur Fundamentaltheologie und Gotteslehre, Berlin: de Gruyter 2008, S. 423-434.
Die Erzählungen vom leeren Grab können dazu verleiten, die Auferweckung Jesu mit der Wiederbelebung eines Verstorbenen zu verwechseln, oder allerhand alten oder neuen Scheintodhypothesen (mit Fortsetzung in Indien oder anderswo) Nahrung geben. Wenn das passiert, dann stellen sie den Osterglauben selbst in Frage. Die Erzählungen vom leeren Grab müssen aber nicht dazu verleiten. Und sie tun dies umso weniger, je klarer sie der Verkündigung von den Erscheinungen des auferweckten Gekreuzigten zu- und untergeordnet werden. Die christliche Osterbotschaft lautet nicht: "Das Grab ist leer", sondern: "Der Herr ist wahrhaftig auferstanden und Simon erschienen" (Lk 24,34; 1 Kor 15,4 f.).
Der Osterglaube ist von zwei Gefahren bedroht, die dieselbe Wurzel, aber eine gegensätzliche Form haben: Er ist bedroht, wenn er durch die Behauptung des leeren Grabes begründet werden soll, und er ist bedroht, wenn er aufgrund der Bestreitung des leeren Grabes bestritten werden soll. Aber beides ergibt sich nur aus einem Missverständnis des Osterglaubens, nicht aus dem Osterglauben selbst. Der Osterglaube lebt nicht vom leeren Grab und darum stirbt er auch nicht daran, dass bzw. wenn das Grab nicht leer war. (Fazit, S. 434)