Zur Entstehungsgeschichte des Celler Modells
Ein Interview mit Reimer Gronemeyer 2006
Bei der Vorbereitung der Generalsynode der VELKD 1988 zum Thema "Sterbende begleiten" wurde angeregt, Unterrichtsmaterial zu entwickeln für die Ausbildung von Ehrenamtlichen in der Sterbebegleitung - anknüpfend an Musterseminare, die zuvor im Gemeindekolleg in Celle angeboten worden waren. Daraus entstand im Laufe der Zeit das sogenannte Celler Modell zur Begleitung Schwerkranker und Sterbender: "Verlaß mich nicht, wenn ich schwach werde".
Das Celler Modell orientiert sich in seiner didaktischen Grundstruktur an der Vorbereitung der ehrenamtlich Helfenden. Das Missverständnis war häufig, wir würden Sterbende pädagogisch-didaktisch begleitet sterben lassen wollen. Das ist natürlich Unsinn. Aber diejenigen, die sie menschlich begleiten, die brauchen eine gute Vorbereitung, da kommt man ohne Erwachsenenpädagogik und didaktische Einheiten nicht aus.
Wir haben ein Konzept entwickelt, dass sich sehr gut gemacht hat. Es ist das Standard-Ausbildungsprogramm in Deutschland geworden. Vor allen Dingen, als die Katholiken mit ihren Malteser-Werken - die waren gerade im Entstehen zur Trägerschaft von katholischen stationären Hospizeinrichtungen, aber auch ambulanten Diensten - sagten: Wir übernehmen dieses Ausbildungsmodell. Es ist dann in der katholischen Kirche bekannter geworden als in der evangelischen.
Im evangelischen Bereich handelte es uns die Kritik von Reimer Gronemeyer ein, der einen in seinen spitzen Bemerkungen klassischen Satz gebraucht hat. Er nannte das den "orthothanatologisch gesicherten Abgang". Das werde ich nie vergessen! (lachend) Eine heftige Kritik an unserm Celler Modell!
Wir mussten uns Mühe geben zu sagen: Leute, die Menschen sollen nicht "orthothanatologisch gesichert" abgehen, sondern sie sollen im Sterben menschlich begleitet werden! Aber die, die sich für diese Aufgabe ehrenamtlich bereitfinden, die sollen nicht nur mit heißem Herzen darangehen, das auch, aber doch auch ein bisschen was können und wissen und sich vorbereiten - auf Gruppen einlassen vor allen Dingen, weil wir denken: Wer nur mit heißem Herzen kommt, der macht womöglich auch viel falsch, ist nicht zurückhaltend genug oder setzt sein Tun nicht der Kritik, der Supervision anderer aus. Was soll das Unternehmen also? Wir wollen die Ehrenamtlichen gerne vorbereiten.
So ist daraus ein Riesenunternehmen entstanden: die Entwicklung eines Ausbildungs- oder Vorbereitungsmodells - in Zusammenarbeit zunächst nicht mit der Hospizbewegung, sondern mit dem Gemeindekolleg. Wir haben dann doch lieber "Vorbereitung" statt "Ausbildung" gesagt, weil wir dem Missverständnis, es handele sich um irgendwie staatlich anerkannte Ausbildungsmodelle, nicht dienen, sondern deutlich machen wollten, das ist Vorbereitung von Ehrenamtlichen.
Es war ursprünglich gedacht als "Seelsorge der Gemeinde". Das ist ja ein Gemeindekolleg in Celle. Gerade die Gemeinden sollten in den Stand versetzt werden, das zu tun, was sie früher getan haben, nämlich Schwerkranke und Sterbende kompetent begleiten. Dann stellte sich heraus: Die Hospizbewegung hat sich dieses Konzeptes angenommen, und es ist eine Zeitlang das Vorbereitungs- oder Ausbildungsmodell innerhalb der Hospizbewegung geworden. ...
Noch ein paar Bemerkungen zum "Celler Modell". Das Gemeindekolleg in Celle entwickelt Kurse zu bestimmten Themen, die in den Gemeinden behandelt und nachgemacht werden können, richtige Modelle z.B. "Gottesdienst leben", "Neu anfangen", oft auch Projekte, die aus anderen lutherischen Kirchen Skandinaviens oder Nordamerikas zu uns nach Deutschland geholt, übersetzt, adaptiert und neu herausgegeben werden: "Wort und Antwort", "Gottesdienst leben", "Neu anfangen" und so weiter und so fort. Wenn man sich darüber informieren will, das Gemeindekolleg in Celle hat eine Homepage, da kann man sehen, was für Projekte angeboten werden.
Unser Projekt war etwas Besonderes: ohne Vorbild aus dem Ausland, komplett von vorne bis hinten neu gemacht und eigentlich eines, das nicht im Bereich von "Glauben weitergeben" liegt, sondern ein diakonisch-seelsorgerliches Projekt.
Die Regel war, man macht eine Konsultation, dann eine Konsultationsphase, dann gibt's eine Projektentwicklungsphase, und wenn man das Projekt fertig hat, gibt's eine Projektbegleitphase. Die Materialien werden nicht veröffentlicht, sondern die kann man immer nur durch Teilnahme an den Kursen in Celle bekommen. Von diesem Grundsatz ist man inzwischen abgewichen, andere Projekte, "Wort und Antwort" z. B., sind auch längst publiziert.
Aber wir waren damals die ersten, die in die Situation kamen: noch ehe überhaupt groß Kurse gelaufen waren, wollte schon jemand das zu einem Buch gestalten - und zwar wegen der Bilder von Ferdinand Hodler zum Sterben seiner Geliebten Valentine Godé-Darel. Und das kam so:
Der Projektsekretär dieses Projektes, Burkhard Straeck, Pfarrer in Hannover, war Nachfolger von Wolfgang Longardt für die Redaktion von "Was und Wie?" im EB-Verlag Hamburg. Er schrieb für diese Zeitschrift einen kleinen Artikel über das Projekt. Das sah der Verleger Dr. Brandt und sagte: "Ich möchte gerne daraus ein Buch machen." Und da haben wir ihm dann die Materialien zur Verfügung gestellt, und das ist dann das Buch geworden.
(Leider konnten die Hodler-Bilder dann im Buch gar nicht abgedruckt werden, weil das zu teuer gewesen wäre. Sie waren als didaktisches Begleitmaterial in Form einer Diaserie separat erhältlich. Ich habe mir ein Buchexemplar mit Bildern gemacht, das zeige ich Ihnen nachher.)
Ich verdanke es besonders dem Nachfolger von Alfred Seiferlein (der unser erster Begleiter war im Gemeindekolleg in Celle), nämlich Andreas Ebert (der das Enneagramm herausgebracht hat von Richard Rohr, der viele Bücher übersetzt und viele geschrieben hat), dass daraus tatsächlich ein Buch wurde. Denn das eine sind Arbeitsmaterialien - und das andere ist ein Manuskript. Da ist, wie ich inzwischen gelernt habe, der Weg zu einem Buch noch relativ weit. Aber er hat es geschafft, die 2 mal 8 Schritte aus dem Grundkurs und dem Vertiefungskurs so in ein Manuskript zu fassen, dass daraus ein Buch werden konnte.
Der Kompromiss war damals: Nur das Teilnehmermaterial erscheint öffentlich, so dass man es kaufen kann, und das sogenannte Leitungshandbuch mit den ganzen didaktischen Anweisungen, wie man's denn macht, das gibt es nur im Gemeindekolleg in Celle gegen Teilnahme an Einführungskursen.
Das war sehr mit der heißen Nadel genäht, dieses erste Leitungshandbuch (von dem ich inzwischen nur noch ein von einer Freundin zurückgegebenes Exemplar fest gebunden besitze, alles andere hat sich aufgelöst; wir hatten nämlich Ringordner für das Teilnehmermaterial; ich habe das Leitungshandbuch aufgeschnitten, gelocht und dann auch in den Ringordner hineingetan). Das war so mit der heißen Nadel genäht, dass wir einige Zeit später noch eine zweite Auflage (sc. mit Ergänzungen und Korrekturen) machen mussten. Und so ist dann eben die zweite Auflage des Leitungshandbuches entstanden.
Inzwischen ist leider Folgendes passiert - zum großen Jammer von Dr. Brandt, der die Bücher gedruckt hat. Das Gemeindekolleg in Celle war der Meinung, dass nach der Wiedervereinigung und dem Hinzukommen der östlichen Gliedkirchen das "Celler Modell" unbedingt noch einmal überarbeitet werden müsste, besonders in seinen allzu frommen Teilen. Man wollte säkularer sein und vielleicht auch in gewisser Weise ergebnis-offener.
Ich will das deutlich machen: Und zwar gibt's den ganzen Ärger nur um den Vertiefungskurs herum. Der aber ist das Eintrittsbillett für die katholische Kirche. Nur weil es diesen Vertiefungskurs gibt, hat die katholische Kirche, haben die Malteser-Werke das zu ihrem Grundmodell erklärt. Aber die Evangelischen hatten damit immer Probleme.
Ich erläutere kurz: Der Grundkurs (die Geschichte von den Emmaus-Jüngern, elementarisiert in acht Schritten: wahrnehmen, mitgehen, zuhören, verstehen, weitergehen, bleiben, loslassen, aufstehen) ist nichts weiter als eine Art Seelsorgekonzept - das sind lauter aktive Verben. Und wie ich herausgefunden habe: Isidor Baumgartner, der katholische Nestor der Pastoraltheologie, hat in Vorlesungen mit der Emmaus-Geschichte gearbeitet; Manfred Seitz hat seine Seelsorge-Vorlesung damit bestritten.
Wir haben einen eigenen Zugang mit diesen acht Schritten, acht aktiven Verben, und wir behaupten: Jede Seelsorge enthält das gekonnte Umgehen mit diesen acht Verben. Und wenn man ganz genau hinguckt, eigentlich jede Gruppe, jede Gruppendynamik: wahrnehmen, mitgehen, zuhören, verstehen, weitergehen, bleiben, loslassen, aufstehen. Das saß und ist bis heute unverändert.
Und nun: Man hat ein bisschen Material ergänzt und, wie ich finde, in dem neuen Modell (das übrigens jetzt erschienen ist im Gütersloher Verlagshaus, weg von Dr. Brandt hin zu einem andern Verlag) auch die Didaktik etwas verändert.
Da ist dann Folgendes passiert: Man hat in der neuen Auflage nicht das Teilnehmerhandbuch zum Buch gemacht, sondern das Leitungshandbuch. Und die Teilnehmermaterialien in einer CD-ROM hinten reingeklebt. Jetzt entsteht die merkwürdige Situation, wenn man das Buch nimmt: keine Bilder mehr, sondern eine Bleiwüste mit lauter didaktischen Empfehlungen. Das ist ein Lehrbuch geworden, das nimmt man nicht gerne zur Hand. Und das, was immer noch kostbar ist, ist in der CD-ROM, das kann man aber nicht sofort sehen. Schade, schade, schade! Denn:
Als ich von Hannover wegging und wieder nach Schleswig kam, dort Gemeindepfarrer wurde, da habe ich selbst eine Hospizgruppe gegründet und mit dem Unterrichtsmaterial, das ich entworfen hatte, selbst gearbeitet. Der erste Mann, der zu uns in eine Gruppe kam, erkrankte an Krebs; er starb in der Zeit, in der wir den Kurs zu Ende führten. Das Buch, das Teilnehmerhandbuch, lag zu Hause auf dem Wohnzimmertisch, und seine Frau und er haben darin gelesen und beide sind über die wunderbaren Texte, die da drin sind, miteinander ins Gespräch gekommen. Das macht man nicht mit einer CD-ROM.
Ich war darüber so traurig, dass ... Aber ich muss erst noch einmal eine Zwischenbemerkung machen, erzählen, wieso wir die zweite Auflage kriegten und überhaupt dazu kamen, das Buch neu zu machen. Immer der Reihe nach!
Der Vertiefungskurs hat auch acht Schritte und die sind an der Beichte orientiert. Wie es dazu kam? Es gab zur damaligen Zeit eine Art liturgischen Entwurf zur Beichte: Anrufung, Verkündigung, Besinnung, Beichte, Lossprechung, Dank. Und ich dachte, ich könnte das nehmen als Struktur für den Vertiefungskurs. Da hat mir meine Vorbereitungs- und Projektgruppe gesagt: Also, mit diesen erschlagenden Hauptworten wollen wir nichts zu tun haben! Da habe ich versucht, diese Struktur zu übersetzen und habe damals so eine Art Meditation gemacht zum Thema und bin darauf gekommen, das Ganze umzubenennen. Da heißt es dann: gerufen, gefragt, bedacht, bekannt, gelöst, erfüllt, gesegnet, begabt. Partizip Perfekt Passiv.
Daraufhin hat die Projektgruppe gesagt: Das nehmen wir, das ist ja wunderbar, das changiert ein bisschen, sowohl den Schwerkranken und Sterbenden betreffend - der wird ja auch gerufen, sozusagen ans Ende seines Lebens - als auch den ihn Begleitenden, der was lernen soll: der ist auch zwischen "gerufen" und "begabt", arbeitet an sich, denn das Material, das wir zum Arbeiten mitbringen, sind wir selbst. Etwas anderes an Handwerkzeug haben wir ja nicht anzubieten oder mitzubringen, nur uns. Also: Wir arbeiten in dem Vertiefungskurs nicht mehr mit aktiven Verben, sondern an Haltungen, inneren Haltungen.
Und trotzdem war das sehr umstritten, weil es im Grundkurs eine biblische Geschichte als Leitmotiv gibt und im Vertiefungskurs nur die mit einer Hilfskonstruktion (also Übergang von den Hauptworten zu Partizip Perfekt Passiv-Wendungen) gemachte Meditation der Beichte. Das war nicht so leicht zu vermitteln und klang ein wenig fromm: "gesegnet", "begabt." Und bei "begabt" war die Gabe dann auch noch das Abendmahl!
Das führte schon beim Entstehen des Projektes dazu, dass man den Vertiefungskurs am liebsten ganz weggetan hätte. Gott sei Dank haben wir das nicht getan, denn das war, wie gesagt, der Schlüssel dazu, dass die Katholiken sagten: Das ist ein so geistlich profiliertes Modell, das die Beichte thematisiert. Am Ende des Lebens geht es um so etwas wie Lebensbilanz - so nennen das andere, die Anthroposophen machen Biographiearbeit, man muss es nicht immer Beichte nennen. Aber es geht doch darum - Elisabeth Kübler-Ross hatte das genannt das "Erledigen unerledigter Geschäfte". Dazu Hilfen zu geben, also selbst das zu tun und aufmerksam zu werden, wie mache ich das eigentlich, wie helfe ich anderen, die vor dieser Herausforderung stehen. Das sollte der Vertiefungskurs bringen - brachte er auch.
Es gab Hospizgruppen, die haben dreimal den Grundkurs gemacht, ehe sie sich einmal an den Vertiefungskurs wagten, wenn sie den aber einmal sich getraut hatten zu machen, dann haben sie nie wieder darauf verzichtet, weil der tiefer sitzt, innerer, innerlicher.
Nun gab's aber von den mehr säkularisierten Leuten oder weniger kirchlich Verbundenen immer wieder viel Kritik, und Celle nahm das auf und hat den Vertiefungskurs umgebrochen, die Hälfte stehen lassen und einen andern Schluss gemacht. Ich kann den nicht auswendig und ich weigere mich auch, das zu verinnerlichen, das müssen Sie einfach mal nachlesen. Das Buch gibt's nun zu kaufen, das heißt "Sterbende begleiten lernen" und nicht mehr "Verlass mich nicht, wenn ich schwach werde". Da kommt das "orthothanatologisch gesicherter Abgang" und "Pädagogisierung" stärker zum Ausdruck als in unserm Buch.
Nachdem ich nun also das neue Buch gesehen hatte und traurig war ("das ist ja eigentlich das Leitungshandbuch, das zum Buch gemacht worden ist, und die Teilnehmermaterialien sind auf CD-ROM"), habe ich das nur überlebt, indem ich meine eigene zweite Auflage "Verlass mich nicht, wenn ich schwach werde - Handbuch zur Begleitung Schwerkranker und Sterbender, korrigiert und ergänzt 2004", noch einmal gestaltet habe, DIN A 4-Größe, mit den Bildern von Hodler! Da habe ich dann das korrigiert und ergänzt, was ich, wenn ich es hätte veröffentlichen dürfen, als zweite Auflage herausgegeben hätte. Da sind die ganzen Materialien wieder drin und vor allem die Hodler-Bilder.
Diesen Bildern der todkranken und sterbenden Valentine Godé-Darel haben wir zu verdanken, dass das Celler Modell überhaupt als Buch erschien: Das strahlende Rot, wie eine byzantinische Prinzessin! Dann neigt sich das Haupt, sie wird eingefallener, trauriger, melancholischer, sie kommt zum Liegen, die Rosen, die Uhr. Sie schwitzt und kämpft, sie ergibt sich, das Haupt neigt sich, sie atmet schwer, sie wird immer weniger. Als sie stirbt, malt Hodler nur den Genfer See und hat sie dann später auf dem Totenbett gemalt. Und ein Bild von ihr aus der Erinnerung, das ja sehr viel offener, weicher ist als das strenge byzantinische. Diese Bilder haben in den Kursen immer einen großen Eindruck gemacht und gehören eigentlich in das Buch - und auch andere schöne Ergänzungen. Insofern kann man sagen: Es ist eine Art Paket, was daraus geworden ist: das "Celler Modell".
Interview mit Peter Godzik, Propst des Kirchenkreises Herzogtum Lauenburg, am 25.10.06 in Ratzeburg
Interviewer: Prof. Dr. Reimer Gronemeyer, Michaela Fink
Länge der Audiodatei: 1:18:58
Transkription: Thorsten Euler
Korrektur und Formatierung: Michaela Fink