Ich lasse dich nicht,
du segnest mich denn.
1. Mose 32,27
Kaum ein Schritt in der Trauerarbeit wird so leicht missverstanden wie gerade das Loslassen. Als sollte mit dem Loslassen eine zweite und endgültige Trennung von dem geliebten Menschen vollzogen werden, die nichts mehr von dem gelten lässt, was einst an Liebe und Zuneigung gewesen ist. Gegen solche merkwürdigen Zumutungen wehren Trauende sich zu Recht.
Aber mit dem Loslassen oder vielmehr Losgelassen-Haben ist etwas anderes gemeint. Es geht darum, sowohl dem verstorbenen Menschen wie sich selbst die Freiheit zuzugestehen, sich "in andre, neue Bindungen zu geben", wie Hesse einst formulierte. Der, der gegangen ist, gehört jetzt der Ewigkeit bei Gott, nicht mir; ich selbst gehöre nicht mehr dem anderen, sondern den neuen Lebensmöglichkeiten, die Gott für mich vorgesehen hat.
Wer nicht loslassen kann oder will, scheint das eheliche Versprechen "... bis dass der Tod euch scheidet" übererfüllen zu wollen und noch über den Tod hinaus so verbunden zu bleiben, dass neue Beziehungen unmöglich werden. Darum aber kann es nicht gehen, das Plansoll überzuerfüllen und die vorgesehene Trennung und Scheidung nicht zu akzeptieren.
Erst im Loslassen wird wahrhaft behalten. Das kann aber nur gelingen, wenn es mit gegenseitigem Segnen verbunden ist. Loslassen und Behalten können auch verstanden werden als die beiden notwendigen Vorgänge beim Atmen:
Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einziehn, sich ihrer entladen.
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank ihm, wenn er dich wieder entlässt!
Johann Wolfgang von Goethe