Barlach [war] stark inspiriert [von] der heidnisch-slawischen Geschichte in und um Ratzeburg, wo er seine Jugendjahre verbrachte. Gleich im ersten Raum des dortigen Barlach Museums wird dieser bislang vernachlässigte Strang von Einflüssen auf sein Werk verfolgt. Wurde bisher die große Südrussland-Reise [1906] als Beginn von Barlachs Faszination für - auch abgründige - osteuropäische Motive angesehen, finden sich in der Ratzeburger Schau vielfältige Belege, dass es die in seiner Kindheit stattfindenden ersten Grabungen zur Slawenarchäologie waren, die ihm unvergesslich wurden.
Ihn begeisterte in der Hochphase einer Ende des neunzehnten Jahrhunderts sich überschlagenden Industrialisierung die von den holsteinischen Ausgräbern konstatierte Nähe der Slawen zur Natur, die sie als Muttergottheit verehrten, daher nachhaltig wirtschafteten und nicht wie Barlachs eigene Zeit die Lebensgrundlagen verseuchten. Der zeitlebens an Materiellem Uninteressierte verschlang die archäologischen Jahresberichte, denen zufolge es bei den Slawen ein kommunitäres Teilen des Besitzes und die gemeinsame Bewirtschaftung der Felder gegeben habe. ...
Als früh ökologisch Interessierter zeigt sich Barlach, wenn er in den vollständig erhaltenen und von Ulrich Bubrowski vorbildlich edierten Tagebüchern und Tausenden von Briefen schon im Jahr 1896 das durch eine Textilfabrik rot verfärbte Wasser des Rheins als gleichsam apokalyptische Umweltverschmutzung beschreibt. Oder wenn der von Beginn an für soziale Fragen Brennende schon in seiner Jugendstilphase anachronistisch Arme, Hässliche und Obdachlose zeigt.
Stefan Trinks, Die Schwerelosigkeit des Existentiellen. Artikel in der FAZ vom 14. August 2020.