Nach Barlach muß die Welt erlöst werden. Wie soll dies geschehen? An einem "toten Tag" verblutet der namenlose "Gottessohn" in der Abgeschiedenheit einer ärmlichen Hütte. Kule und Steißbart machen sich auf den "Botengängerweg", damit die Welt weiß, was sie wissen. Offenbar finden ihre Worte kein Gehör bei den Menschen, denn der zweite "Gottessohn", Hans Iver, wird wie ein "armer Vetter" gehalten und geht unverrichteter Dinge in den Tod. Nun schickt Gott keinen seiner "Söhne" mehr aus, sondern überläßt die Menschheit sich selbst. Der Weg führt in den Abgrund. Inmitten des Flüchtlingselends im "Findling" keimt die Hoffnung. Der Weg wird sichtbar: Die Menschheit bedarf keiner Erlösung durch "Gottessöhne". Sie sind den Menschen durch ihren Blick zum Himmel zu fremd geworden, zu wenig wesensverwandt geblieben. Die Welt kann nur erlöst werden, wenn jeder einzelne Mensch, bestrahlt von der Gnade Gottes, sich selbst erlöst von seinem triebhaften Ich. Das gute Beispiel von Frl. Isenbarn, Elise und Thomas muß auf die Mitmenschen weiterwirken und Frucht bringen. Der Mensch muß, wie Lietz sagt, ein "seliges und seligmachendes Glied der Gemeinschaft" werden.
Barlach hat den Weg der Menschheit sichtbar gemacht bis zum drohenden Untergang. Er hat das Ziel, die vorurteilslose und mitfühlende Liebe, aufleuchten lassen. Und schließlich hat er uns die Wanderer selbst vor Augen geführt: die einsamen "Gottessöhne" (Sohn, Iver), die Gottsucher, die um eine Auferstehung ringen (Frl. Isenbarn, Grude, Elise, Thomas), und die Menschen der bloßen Diesseitigkeit, die nur "sie selbst" sind (Frau Keferstein, "Frau Venus" und ihr Anhang, Onkel Waldemar). ...
An dieser Stelle sei ein kurzer Rückblick auf den zweiten Abschnitt des Dramenzyklus erlaubt. Der blaue Boll hat sein "Fleisch" überwunden. Nicht nur, daß er die böse Lust unterdrückte. Er ist über sein Körper-Sein hinausgewachsen. Sein Geist, das Erbe des göttlichen Vaters, hat die Oberhand behalten. Boll ist nicht mehr der asoziale Typ, der Einzelgänger, der außerhalb der Gemeinschaft steht wie lver und der junge Sedemund. Sie sind Träumer und Phantasten. Ihre Seele "dunstet Sehnsucht, sie schafft keine Taten". Boll aber übernimmt die Verantwortung für einen Mitmenschen. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß Grete für Boll nicht irgendein Mensch ist. Abgesehen von der Stimme des Blutes besteht bei Boll eine starke seelische Bindung an Grete. Der Sieg dieses echten Gefühls über den Trieb veranlaßt ihn, Grete unversehrt nach Hause bringen zu lassen, zum Wohle für ihre Familie. Derjenige Mensch also, für den Boll verantwortlich zeichnet, steht in einem positiv-seelischen Verhältnis zu ihm.
Heinrich, Graf von Ratzeburg, geht einen Schritt weiter. Er opfert sein Leben für einen Mitmenschen. Jedoch könnten zwei egoistische Motive für seine Handlungsweise geltend gemacht werden. Zum ersten will er sich von der Schuld, die er durch die Zeugung des unehelichen Sohnes auf sich geladen hat, reinwaschen, denn dieser ist erst zum Räuber und Mordbrenner geworden, weil er sich um sein gräfliches Erbe betrogen sah und versuchte, sich seinen Anteil gewaltsam zu verschaffen. Zum anderen hegt der Graf eine geradezu zärtliche Liebe für seinen Sohn "Wölfchen", die letzthin ausschlaggebend ist dafür, daß er ihn bei dem Tumult entkommen läßt, statt ihn zu zwingen, an seiner Seite seine Schandtaten zu sühnen.
Es besteht eine große Ähnlichkeit zwischen dem geläuterten Verhältnis Boll-Grete und der Beziehung Heinrich-Wolf.
Es ist unschwer zu erraten, was der Mensch - nach Barlach - tun muß, um die höchste Stufe der Vollendung zu erreichen. Er muß die Verantwortung für seinen Nächsten übernehmen und sie, wenn es sein muß, mit dem Leben bezahlen. Aber nicht nur für einen geliebten Menschen, sondern für jeden Fremden ohne Ansehen der Person oder des Standes. Das ist die höchste Forderung, die Barlach stellt.
Gelingt es nun in seinem letzten Drama einem Menschen, dieses Ziel zu erreichen, sich zu einer solchen "Gottähnlichkeit" emporzuschwingen? Bricht wirklich eine "gute Zeit" für die Menschheit an?
Jeder Mensch trägt die "gute" und die "böse" Zeit in sich. "Die Zeiten sind in uns, nicht wir in ihnen." Die "böse Zeit" ist das Fleisch-Sein, die Erdgebundenheit des Menschen. Die "gute Zeit" aber ist das Werden, das Streben nach dem höheren Leben.
Helmut Dohle, Das Problem Barlach, 1957, S. 59 ff.; 95 f.