Wer Barlachs Kunst in der Tiefe verstehen und sachgerecht einordnen will, darf seinen Blick nicht allein auf stilistische oder ästhetische Gesichtspunkte einengen, wie das in neuerer Zeit zunehmend geschieht. Für ein angemessenes Verständnis seines Werks entscheidend ist vielmehr, was die Quellen in Fülle und Eindeutigkeit bezeugen: daß in Barlachs Kunst Gottesdenken, Weltgefühl und künstlerische Gestaltung eine unauflösliche Einheit bilden.
In dieser eigentümlichen Synthese war Ernst Barlach unter den großen Künstlergestalten der Moderne eine Ausnahmeerscheinung, ein Unzeitgemäßer und darin ganz er selbst - kein Erbe, kein Wegbereiter, kein Vollender, sondern ein großer Einsamer, der, von Zeitströmungen und Moden kaum beeindruckt und beeinflußt, unbeirrbar seinen ihm gemäßen Weg ging.
Nein, Barlach ist nicht, wie manche meinen, lediglich ein moderner Künstler neben anderen, sondern - am Rande der großen Kunstströmungen seiner Zeit - der mit Abstand bedeutendste religiöse Künstler, den Deutschland im 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Die hier vorgelegte Analyse seines Denkens, seines Glaubens und seiner Motivation als Künstler soll diese Behauptung, für jedermann nachprüfbar, belegen.
Daß Barlachs mystische Religiosität zudem eine sehr moderne war, eine, die mit dem dogmenkritischen Bewußtsein unserer Zeit konform geht und dabei doch das große Geheimnis wahrt, wird in der Diskussion um seine Person und sein Werk viel zu wenig beachtet und gewürdigt.
Konfessionelle Verengung, Bekenntnissicherheit und aufdringliche Rechtgläubigkeit waren dieser durch und durch individuellen Religiosität gänzlich fremd. In sich hinein- und in die Welt hinaushorchen und dabei die Tiefe der Dinge und den darin geheimnisvoll wesenden unbekannten und unauslotbaren Gott erahnen, auf immer neuen, aufwärts führenden Stufen des eigenen Lebenswegs, das ist nach Barlachs Überzeugung die Aufgabe jedes bewußt lebenden Menschen: Gott erahnen, ihm in seltenen Augenblicken vielleicht nahe kommen und doch wissen, daß das tiefste Geheimnis der eigenen "höheren Abkunft" dennoch für immer Geheimnis bleiben wird.
Es ist dies eine Religiosität, wie sie Rainer Maria Rilke im Hinblick auf den suchenden Menschen der Moderne in den Schlußzeilen seines Gedichts "Der Schauende" punktgenau und einfühlsam charakterisiert hat:
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.
Ein Schauender (als einen solchen hat er sich selbst bezeichnet) ... ein Schauender, den trotz zeitweilig hoher Wertschätzung seiner Kunst die Siege nicht einluden, zudem einer, der auf einem mühsamen Lebensweg sein inneres Wachstum als ein Tiefbesiegter von etwas immer Größerem erlebte - das war nach eigenem Bekunden auch er: der Bildhauer, Zeichner, Dichter und Gottesdenker Ernst Barlach.
Wolfgang Tarnowski: "Ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich". Ernst Barlach über die Rolle der Religion in seinem Denken und Werk. Hamburg: Ernst Barlach-Gesellschaft 2007, S. 5-7.