Am 24. Oktober 1938 starb der Bildhauer, Schriftsteller und Zeichner Ernst Barlach mit 68 Jahren in einer Rostocker Klinik; vier Tage später wurde er in der väterlichen Grabstelle auf dem Ratzeburger Friedhof an der Seedorfer Straße begraben.
Er wurde 1870 als ältester Sohn eines Arztes (und Enkelkind eines ev. Pfarrers) in Wedel geboren, wuchs in Schönberg, Ratzeburg und - nach dem frühen Tod des Vaters unter mütterlicher Obhut - wieder in Schönberg auf. Künstlerische Lehrjahre führten ihn nach Hamburg, Dresden, Paris und Florenz.
1906 unternahm er eine Reise zu seinem Bruder Hans nach Charkow ins südliche Russland (heute Ukraine). Seit 1910 stellte er in Berlin in der Secession und beim Kunstsammler Paul Cassirer aus. 1915 wurde er zum Landsturm nach Sonderburg eingezogen.
Er lebte in Güstrow, wo er sich nach seinen Bedürfnissen ein Atelier und Wohnhaus am Inselsee bauen ließ, zusammen mit seiner Lebensgefährtin Marga Böhmer. 1924 erhielt er den Kleist-Preis, 1925 wurde er Ehrenmitglied der Akademie der Bildenden Künste München und erhielt 1933 den Orden "Pour le Mérite". Aber es war auch in München, wo seine eindrucksvolle Holzplastik "Das Wiedersehen" (die Begegnung des auferstanden Christus mit dem ungläubigen Thomas) 1937 bei den Nazis als Beispiel für "entartete Kunst" herhalten musste.
Er schuf Ehren- und Mahnmale, die nach 1933 entfernt bzw. zerstört und nach 1945 wieder erneuert wurden, beispielsweise das Güstrower Ehrenmal (bekannt als Der Schwebende) im Dom von Güstrow. Der Geistkämpfer in Kiel und eine Figurengruppe im Magdeburger Dom wurden wieder aufgestellt. Barlach wurde weltweit bekannt für seine Holzplastiken und Bronzen, außerdem hinterließ er ein vielgestaltiges druckgraphisches, zeichnerisches und literarisches Werk.
Barlach war ein Suchender nach Menschlichkeit, Wahrheit und Wirklichkeit. Er lässt den Grafen von Ratzeburg sagen: "Ich habe keinen Gott, aber Gott hat mich." Dieses Bewegtsein von der Gottesfrage findet sich in vielen seiner bildhauerischen, zeichnerischen und dramatischen Werke wieder.
Er schafft nach vielen Vorarbeiten den Bronzeguss Ruhe auf der Flucht: Maria verwahrt das Jesuskind auf ihrem Schoß, beschützt vom Mantelumhang Josefs - ein schönes und frühes Zeichen dessen, was wir heute unter "Palliation" verstehen. Marias Brust ist unbekleidet - ausnahmsweise eine sehr dezent dargestellte Nacktheit an dieser Stelle, sonst sind die Menschen stets sehr eindrucksvoll bekleidet, eingehüllt in Gewänder, die Barlach stets sehr sorgfältig gestaltet. Eine göttliche Fürsorge zur Verhüllung der Scham, wie wir aus Genesis 3,21 wissen.
Ich habe die russische Bettlerin vor Augen, Moses mit seinen Gesetzestafeln, den lehrenden Christus, Jesus am Kreuz mit einer extrem engen Taille (die Elke Blattmann an die Gürtelpuppe mancher Schmetterlingsart und ihre Metamorphose erinnert) und den Holzschnittzyklus Die Wandlungen Gottes.
Barlach setzt sich mit der Sündflut auseinander und schafft in Calan einen aufmüpfigen Gegenspieler zum frommen Noah. Er thematisiert die Notwendigkeit einer zweiten Geburt im Toten Tag, um nicht bei der erdhaften Mutter hängen zu bleiben, sondern dem geistigen Impuls des Vaters zu folgen: "Mutter genug, aber an Vater ist zu wenig."
Er lässt seine Protagonisten ringen um den Findling, das krätzige Kind, in dem sich gleichwohl Heilung und Heil zeigt, und nimmt damit etwas von Rosemaries Baby vorweg. Er lässt in Celestine eine Frau stellvertretend ans Kreuz gehen, um ein anderes Leben zu retten - und beschreibt doch seine eigene Gute Zeit in der Gestalt des Syros anders: ohne Schuld, ohne Verantwortung, ohne stellvertretendes Leiden.
Er war voller Spott für die, die ihn allzu religiös oder gar kirchlich vereinnahmen wollten: "Sie sehen, ich bin eigentlich ein boshafter alter Affe, aber den Leuten macht es mehr Spaß, mich für einen gutherzigen Theologen zu halten" (in einem Brief an Reinhard Piper).
Und doch setzte er sich unentwegt mit religiösen Themen auseinander: mit Selbstmord, bürgerlicher Anständigkeit, Schuld und Vergebung, mit Pilgerfahrt und der Frage nach dem wahren Herrn. Im Grafen von Ratzeburg geht es um ein Thema, dass erst viel später von Erich Fromm aufgegriffen wurde: Haben oder Sein.
Ernst Barlach ist viel moderner, als wir meinen. Er lässt einen Bewunderer der "Allgemeinen Versicherung" auf der Insel der Seligen in der Guten Zeit sagen: "Das Leben als absoluter Klubsessel, soweit haben wir es also gebracht!"
Es wird Zeit, dass wir das dramatische Werk Ernst Barlachs wiederentdecken. "Am Ende mußte ich immer mehr erkennen, daß das Gesicht in allen Dingen sich nicht enthüllt, wenn man selbst nicht sein Gesicht zeigt ...", schreibt er schon 1911 an Wilhelm Radenberg.
Barlach hat sich uns gezeigt in seinen zeichnerischen, bildhauerischen und dramatischen Werken als ein "Bildhauer" und "Worthauer": mit dem Gesicht und Bild eines wahrhaft menschlichen Menschen, der keinen Gott hat, aber Gott ihn.
"Es genügt wohl, wenn 'ich' mich als etwas anderes als meine Persönlichkeit empfinde, um anzudeuten, daß ich mein wahres Wesen in einer dunklen, unbewußten Tiefe suche. So sind auch wohl alle meine Gestalten nichts anderes als zum Sprechen und Handeln geborene Stücke dieses unbekannten Dunkels, wie ich auch nichts dagegen zu sagen habe, wenn man meint, daß meine plastischen Gestalten nichts sind als sehnsüchtige Mittelstücke zwischen einem Woher? und einem Wohin?" (in einem Brief an Edzard Schaper 1926).
Peter Godzik, Propst a. D., Ratzeburg
Artikel für die Neue Kirchenzeitung (katholische Wochenzeitung für das Erzbistum Hamburg) vom 19. Oktober 2008.