Auf Einladung des Ansverus-Hauses in Aumühle
und unter der Leitung von Diakon Uwe Brunken machte sich Ende Juli 2000
eine Gruppe von Pilgerinnen und Pilgern auf den Weg vom Kloster Nütschau
zum Kloster Lüne in Lüneburg. Weil der Weg durch den Kirchenkreis
Herzogtum Lauenburg führte, habe ich mich dieser Pilgergruppe angeschlossen
und bin drei der sechs Teilstrecken mit gegangen. Nach einem Gebet mit
Eucharistiefeier in der Frühe und einem Frühstück brachen
wir jeweils morgens um 9 Uhr zu unserer nächsten Etappe über
20 km auf. Das schwere Gepäck wurde mit einem Kleinbus transportiert.
Wir Pilger schulterten unseren Rucksack mit den Utensilien für den
Tag und machten uns auf den Weg. Unterwegs gab es jeweils biblische Impulse
zu dem Thema „Mache dich auf und werde ...“ Schweigend haben wir das Gehörte
zunächst bedacht und sind dann bei einer kleinen Rast miteinander
ins Gespräch gekommen. Abends erreichten wir ein Gemeindehaus oder
eine Kirche, wurden mit einem warmen Abendessen versorgt und nächtigten
auf Luftmatratzen oder Feldbetten.
Auf unserem gemeinsamen Pilgerweg haben
wir am Samstag, den 22. Juli 2000, vom Dietrich-Bonhoeffer-Haus in Lauenburg-West
kommend in einer kleinen Gruppe von 18 Personen die Elbe überschritten.
Hinter der Brücke sind wir gleich rechts abgebogen und noch eine Weile
am Elbdeich entlang gepilgert. In der Nähe eines kleinen Wäldchens
haben wir am Deich Rast gemacht und unseren biblischen Impuls gehört:
„Mache dich auf und werde ... ein Grenzgänger“. Dazu hörten wir
die biblische Geschichte von Israels Durchzug durch den Jordan (Josua 3,7-17).
Schon vorher gab es einige kritische Bemerkungen,
wie es denn „Grenzgänger“ oder „Grenzüberschreitung“ heißen
könne, wenn wir doch nur mal so eben über die Elbe gingen – von
einem Bundesland zum andern, von einer Landeskirche zur anderen. Was sei
denn daran „grenzüberschreitend“? Gewiss gibt es deutlichere Grenzen
auf der Welt, auch solche, die schwer bewacht werden oder gar nicht überschritten
werden dürfen. Wir sind dankbar, dass wir in Deutschland, auch an
der Elbe, gerade eine solche Grenze endgültig überwunden haben.
Aber alle Pilger denken beim Überschreiten eines Flusses immer auch
an die Grenze, die einmal unserem Leben gesetzt ist: „Wenn ich weiß,
dass meine Zeit gekommen ist, dann werde ich den Strom überqueren“,
singt die schwedische Popgruppe ABBA in ihrem Song „I have a dream“. Solche
Gedanken spielten in der Pilgergruppe insofern eine Rolle, als sich eine
Mitpilgernde am Tag nach dem Abschlussgottesdienst einer schweren Operation
unterziehen musste.
Die biblische Geschichte vom Durchzug
Israels durch den Jordan beginnt mit einer großen Verheißung
an Josua: „Heute will ich anfangen, dich groß zu machen vor ganz
Israel.“ Und Josua gibt diese Ermutigung an das Volk Israel weiter: „Daran
sollt ihr merken, dass ein lebendiger Gott unter euch ist.“ Ins Wasser
des Jordan gehen zunächst die Priester mit der Bundeslade und zwölf
Männer als Repräsentanten der Stämme Israels. „Wenn dann
die Fußsohlen der Priester in dem Wasser des Jordan still stehen,
so wird das Wasser des Jordan nicht weiter laufen, sondern stehen bleiben
wie ein einziger Wall.“ Und ganz Israel ging auf trockenem Boden hindurch,
bis das ganze Volk über den Jordan gekommen war.
In der Auslegung und Zueignung dieser
Geschichte geht es nun darum, Zug um Zug zu entdecken, wie sehr hier auch
unsere eigene Geschichte beschrieben wird, wenn wir vor der Herausforderung
stehen, eine Grenze zu überschreiten – die Grenze von Angst, Sorge
und Tod.
Wir sind nicht allein, Gott geht mit uns.
Auf dem Pilgerweg tragen wir das blumengeschmückte Holzkreuz vor uns
her. Wir sind nicht allein, wir begleiten einander als Weggefährten
und tun einander einen priesterlichen Dienst im gemeinsamen Singen und
Beten. Das Priestertum aller Gläubigen fordert uns heraus, einander
beizustehen, dazwischenzutreten, still zu stehen auf dem Grunde der Angst.
Und siehe da: Die Wasserfluten von Angst, Sorge und Tod schlagen nicht
über unseren Köpfen zusammen und reißen uns nicht in die
Tiefe.
Beim Propheten Jesaja steht die starke
Zusage: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe
dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch Wasser gehst,
will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht ersäufen sollen;
und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen, und die Flamme soll
dich nicht versengen. Denn ich bin der Herr, dein Gott, der Heilige Israels,
dein Heiland. Ich habe viel für dich getan, weil du in meinen Augen
so wert geachtet und auch herrlich bist und weil ich dich lieb habe.“ (Jesaja
43, 1-4)
Auf einmal werden die Namen der Völkerstämme
lesbar als Kryptogramme unserer verborgenen Ängste, Befürchtungen
und Leidenschaften: „Daran sollt ihr merken, dass ein lebendiger Gott unter
euch ist und dass er vor euch vertreiben wird die Kanaaniter, Hethiter,
Hewiter, Perisiter, Girgasiter, Amoriter und Jebusiter: Siehe, die Lade
des Bundes des Herrschers über alle Welt wird vor euch her gehen in
den Jordan.“ Die Bundeslade hat sich für uns verwandelt in das Kreuz
Jesu Christi, der vor uns her gegangen ist in den Tod und der uns Sünde,
Tod und Teufel überwunden hat in seinem Sterben und Auferstehen. Und
die Steine des Gedenkens an den Durchzug Israels durch den Jordan (Josua
4)? Gott hat uns diese Steine in Brot (und Wein) verwandelt. Bei der Eucharistie
jeden Morgen zu Beginn unseres Pilgerweges haben wir uns erinnert an das
Pascha-Opfer, das Durchschreitungsopfer, Christi. Er ist uns zum Grund-,
Gedenk- und Eckstein unseres Lebens geworden. So müssen wir uns nicht
Steine aufsammeln aus dem Fluss und mit uns tragen ein Leben lang, sondern
wir dürfen jeden Tag neu Wegzehrung empfangen und mit leichtem Gepäck
durch unser Leben ziehen: großgemacht von einem lebendigen Gott.
Peter Godzik, Propst in Ratzeburg