Allianz-Gebetswoche 2000
11. Januar: Vergebung ist möglich
von Propst Peter Godzik
Die Dichterin Eleonore Beck fragt: Wie sähe es in unserer Welt aus, wenn man das Wort „Verzeihung“ aus dem Wörterbuch streichen würde? Wenn die Sache, der Lebensvollzug, der damit gemeint ist, nicht mehr zu den Erfahrungen gehörte, die jeder machen kann? Wenn der Schuldiggewordene schuldig bleiben müßte? Wenn jeder mit seinem Versagen auf sich allein gestellt bliebe? Wenn nur noch Vergeltung, nicht mehr Vergebung zählen würde? Wie sähe es dann aus?
Liebe Schwestern und Brüder,
in dieser Allianz-Gebetswoche bemühen wir uns darum, Gottes Möglichkeiten mit uns neu zu entdecken und auch wieder zu unseren Möglichkeiten werden zu lassen. Gestern hieß es: Hilfe ist möglich! Heute entdecken wir: Vergebung ist möglich!
„Liebende
leben von der Vergebung“, so
hat Manfred Hausmann einmal gesagt. In der Vergebung begegnen wir dem liebenden Gott. Der
Schöpfer sehnt sich nach seinen Geschöpfen. Deshalb hat er sie
geschaffen. Und unablässig geht er ihnen nach, bis er sie gefunden und
heimgebracht hat. Er will Trennung überwinden, Gemeinschaft stiften,
Schuld vergeben. Der garstige Graben des Bösen, der uns von Gott trennt,
soll überwunden und zugeschüttet werden. Aber wie kann das gelingen,
ohne daß das Böse verharmlost und die selbstgemachte und
selbstgefällige Trennung der Menschen von Gott verleugnet wird? Gott baut
eine Brücke zu den Menschen über Abgründe hinweg in seinem Wort
und Sakrament, ja er beschreitet diese Brücke selbst in seinem Sohn Jesus
Christus und lädt die Menschen ein, umzukehren, Lasten abzulegen,
heimzukehren zu Gott. Vergebung ist
möglich!
Vergebung wird möglich durch den, der die Last auf sich nimmt, damit wir frei werden und Frieden haben mit Gott. Christus ist das Lamm Gottes, das hinweg nimmt die Sünde der Welt. „Nicht menschlicher Scharfsinn hat die Lehre von der Vergebung der Sünden entdeckt, sondern Gott hat sie offenbart“, heißt es einmal bei Philipp Melanchthon. Wir sprechen beim Thema Vergebung also nicht zuerst von unseren menschlichen Fähigkeiten, sondern von Gottes Möglichkeiten mit uns.
Was Gott uns entdeckt, ermöglicht und zum Leben geschenkt hat, möchte er aber auch den Menschen zueignen und damit unsere Verhaltens- und Lebensmöglichkeiten erweitern. Vergebung ist möglich - nicht nur bei Gott, sondern auch bei den Menschen! „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“ So sagt Jesus in der Bergpredigt (Matthäus 6,14+15), in den Bibelversen, die uns heute zum Bedenken und zum Beten aufgetragen sind.
Gottes Möglichkeiten werden auch unsere Möglichkeiten, ja wir können Gottes Möglichkeiten unter uns unwirksam und unmöglich machen, indem wir sie nicht annehmen und ihnen nicht entsprechen. Ein erschreckender Gedanke! Wie oft habe ich es wohl Gott unmöglich gemacht, mir zu vergeben, weil ich nicht vergeben konnte? Aber schauen wir nicht auf die dunkle Folie versagter und versäumter Möglichkeiten, sondern auf das helle Licht geschenkter Liebe, ermöglichter Möglichkeiten!
Vergebung ist möglich. Gott schafft die Voraussetzung zur Vergebung. Wer von ihm Vergebung empfangen hat, der wird davon befreit, seinem Nächsten die Schuld nachzutragen. Denn das ist ja das Befreiende der Vergebung: Wir müssen die Lasten nicht mehr mit uns herumschleppen. Wer nachtragend ist, übernimmt sich leicht!
Eine
chinesische Geschichte erzählt, wie ein Mann mit einem Sack voll Getreide
auf dem Rücken zu einer Mühle geht. Am Eingang der Mühle
angekommen, bleibt er stehen. Er kommt nicht weiter, denn er bleibt mit dem
Getreidesack im Eingang stecken. Der Sack, den er auf dem Rücken
trägt, ist zu breit; er gelangt mit ihm nicht durch die Tür. Da
nähert sich jemand von der Seite, geht auf ihn zu und nimmt ihm den Sack
vom Rücken. Nun kommt er hindurch.
In dieser
Geschichte wird deutlich, worum es bei der Vergebung
geht. Die Last der Schuld, die wir mit uns herumtragen, soll abgenommen werden,
weil wir sonst nicht durch die „enge Pforte“ (Matth. 7,13) kommen.
Von Sünde, die uns belastet, sollen wir befreit werden - es geht um
Entlastung.
Die Entlastung
durch Vergebung unterscheidet sich
von allen anderen Wegen, mit Schuld umzugehen. Ich kann Schuld verschweigen,
ich kann sie aus meinem Bewußtsein verdrängen. Aber sie ist dann
nicht verschwunden. Nicht selten drängt sie sich wieder hervor. Dabei
kommt es häufig zu psychischen und körperlichen Erkrankungen.
Ich kann auch
der Sünde den Stachel des Ärgerlichen nehmen, so daß sie mein Gewissen
nicht länger beunruhigt. Aber auch die Verharmlosung kann vorhandene
Schuld nicht beseitigen. Wenn der Mann in unserer Geschichte sich eingeredet
hätte, sein Sack wäre gar nicht so schwer und breit, wäre er
dennoch nicht durch das Tor gekommen.
In der Vergebung hingegen, vor allem in der,
die wir in der Beichte erleben, geht es weder um Verdrängung noch um
Verharmlosung. Schuld wird vielmehr als solche ernst genommen und vor den
richtenden und vergebenden Gott gebracht. Es ist nicht Selbstvergebung, sondern Gottes
Vergebung, die durch den Kreuzestod Jesu geschehen ist. Damit wird die
Schuld abgenommen, die Last ist nicht mehr da.
Diese
Entlastung trägt den Charakter des Endgültigen, mit dem sie jedem Zweifel,
der sich auch später einstellen mag, trotzen kann. Die Entlastung der
Vergebung, die wir in der Beichte erfahren, ist die Freiheit in Christus, die
unser Leben mit Freude gestalten will.
„Unsere Seele ist entronnen wie
ein Vogel dem Netze des Vogelfängers; das Netz ist zerrissen, und wir sind
frei.“ (Psalm 124,7)
Vielleicht ist es aber manchmal noch
schwerer, unseren Nächsten um Vergebung
zu bitten und von ihm Verzeihung anzunehmen, als Gott um Vergebung zu bitten
oder etwa selbst zu verzeihen. Ist das so, weil es unseren Stolz und unsere
Eitelkeit berührt? Aber wir erinnern uns: Gott war sich nicht zu schade,
den Teufelskreis von Schuld und Vergeltung zu durchbrechen. Er hat den ersten
Schritt getan. Was könnte uns nun noch zurückhalten, Vergebung zu gewähren und Vergebung anzunehmen?
Amen.