Rede am Volkstrauertag 2004

gehalten von Propst Peter Godzik

Sehr geehrter Herr Kreispräsident, sehr geehrter Herr Landrat, sehr geehrter Herr Bürgermeister, sehr geehrte Vertreter der Vereine und Verbände, liebe Ratzeburger!

Zahlreiche Gedenktage, die uns in diesem Jahr bewegen, haben die Erinnerung an historische Ereignisse der Jahre 1944 und 1914 zum Thema. Der Bogen spannt sich vom Ende der Blockade Leningrads im Januar über die Landung der Alliierten in der Normandie, das Attentat auf Hitler, den Beginn den Ersten Weltkrieges, den Warschauer Aufstand, die Schlacht an der Marne bis zum Beginn der Ardennenoffensive im Dezember 1944, um nur einige Beispiele zu nennen.

Diese Gedenktage können die Welt nicht verändern. Aber sie beeinflussen unsere Sicht auf die Vergangenheit und unsere Deutung der Gegenwart. Insofern stiften sie Sinn: Aus der Erinnerung an das Leid der Kriege und aus dem Gedenken an die Opfer erwächst der Auftrag, sich für Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit und ein würdiges Leben für alle einzusetzen.

Das ist auch das Vermächtnis der Kriegsgräber in aller Welt und es ist die Mahnung des Volkstrauertages, an dem die Deutschen aufgerufen sind, der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft zu gedenken.

Mit größer werdendem Abstand zu den historischen Ereignissen werden manche Gedenktage als Zäsur empfunden. So bei den diesjährigen Feiern in der Normandie, bei denen Kommentatoren vom Ende der Nachkriegszeit oder davon sprachen, dass der Zweite Weltkrieg nun endgültig vorüber sei. Was hier mit Blick auf die westliche Welt geäußert wurde, wird vielleicht im nächsten Jahr, wenn wir auf sechzig Jahre Kriegsende zurück blicken, mit Blick auf Osteuropa wiederholt werden.

Vergessen scheint die Forderung des russischen Generals Alexander Suworow aus dem 18. Jahrhundert. Von ihm ist der Satz überliefert: "Ein Krieg ist erst dann vorbei, wenn der letzte Soldat beerdigt ist." Orientiert an dieser Aussage ist der Tag noch fern, an dem der Zweite Weltkrieg mit seinen Folgen als beendet betrachtet werden kann.

Zu viele Gräber sind es, die die Mitarbeiter des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge noch nicht gefunden haben, zu viele Schicksale sind noch ungeklärt - auf allen Seiten. Die Gebeine von über 400.000 deutschen Gefallenen hat der Volksbund seit 1990 auf neu hergerichtete Friedhöfe in Osteuropa überführt und den Gefallenen ein würdiges Grab geschaffen. Und diese Arbeit wird sicher noch etliche Jahre fortgesetzt werden müssen. Denn noch immer gibt es Ehefrauen, Töchter, Söhne und Enkelkinder, die kaum etwas vom Verbleib ihres Mannes, Vaters oder Großvaters wissen. Sie sehnen sich nach Gewissheit oder zumindest nach einer Spur, die ansatzweise Aufschluss über das Schicksal ihres Vermissten gibt. Viele Familien konnte der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge an das Grab ihres Angehörigen führen. Für ebenso viele aber konnte als Ort ihrer Trauer nur eine Namentafel geschaffen werden, weil die Gebeine des Gefallenen nicht zu finden sind. Das wird derzeit zum Beispiel im ehemaligen Stalingrad getan, wo der Volksbund die Namen von über 120.000 Soldaten, deren sterblichen Überreste nicht aufzufinden sind, auf Granittafeln dokumentiert.

Der Volkstrauertag ist ein bedeutender Bestandteil unserer Erinnerungskultur. Es ist ein Tag des Innehaltens, des Gedenkens an die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft sowie ein Tag der Solidarität mit ihren Familien. Er konfrontiert uns mit der Vergangenheit und dem Auftrag, das Vermächtnis der Opfer zu erfüllen, indem wir uns nachhaltig für ein friedliches Zusammenleben einsetzen.

In einem kleinen Dorf in Niedersachsen – es hat gerade einmal siebenhundert Einwohner – wird jedes Jahr am Volkstrauertag eine lange Liste von mehr als einhundert Namen verlesen. Es sind die Namen der in den beiden Weltkriegen umgekommenen Soldaten, die aus diesem Dorf stammten. Es dauert lange, bis die Versammelten alle Namen schweigend und im Stehen angehört haben. Dann erklingt das alte Lied mit der Bitte an Gott: „Verleih uns Frieden gnädiglich!“.

Jedes Jahr wird so die Erinnerung wach gehalten. In dieser Erinnerung geht es nicht um anonyme Zahlen, die in ihrer Größe oft unser Vorstellungsvermögen übersteigen. Es geht – stellvertretend für alle Opfer der beiden Weltkriege im vergangenen Jahrhundert – um die Namen ganz bestimmter Menschen, mit denen mancher der Anwesenden noch ein lebendiges Gesicht verbindet. Eine eindrückliche Erinnerung.

Was für private Erinnerungen gilt, ist auch wahr für das öffentliche Gedenken: Erinnerung braucht Namen und Orte, an die sie anknüpfen kann, damit sie nicht nur beschworen und zu einem leeren Ritual wird. Dazu leistet der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge unschätzbare Dienste. Er geht den Spuren nach, die zu der letzten Ruhestätte von Kriegstoten führen, und nimmt die Friedhöfe in seine Obhut, auf denen sie beigesetzt sind. Diese Aufgabe bleibt wichtig, auch wenn der Kreis derer kleiner wird, die eine persönliche Erinnerung an die beiden Weltkriege haben.

Was bleibt an lebendiger Erinnerung, wenn neue Generationen heranwachsen? In der Gemeinschaft der Generationen hat der Volkstrauertag seine entscheidende Aufgabe, weil nur so sein aktueller Sinn erhoben und für die Zukunft erschlossen werden kann: Das Gedenken an die Opfer der beiden Weltkriege führt weiter – zur Wahrnehmung der gegenwärtigen Opfer von Krieg und Gewalt. Die Erinnerung an die Kriegsopfer der Vergangenheit verpflichtet uns alle dazu, heute für die Überwindung von Gewalt zu arbeiten – wo immer wir können. Diese Aufgabe ist alle Anstrengung wert.

Erinnerungsarbeit ist Friedensarbeit für die Zukunft. In dieser Perspektive liegt der Sinn des jährlichen Volkstrauertages. Er hält die Erinnerung daran wach, zu welchen Folgen militärische Gewalt führt. Die Erfahrung des 20. Jahrhunderts lehrt: Krieg ist kein geeignetes Mittel zur Konfliktlösung. Wer dies erkannt hat, muss verstärkt nach zivilen Wegen der Konfliktbewältigung fragen. Die Erfahrungen der jüngsten Kriege in Afghanistan und im Irak, der nicht beendeten Gewalt auf dem Balkan und in Palästina unterstreichen dies nachdrücklich.

Die immer wieder aufflammende Gewalt zwischen Völkern und Volksgruppen, aber auch gegenüber Minderheiten im eigenen Land fordert jeden heraus, aktiv Stellung zu beziehen. Es braucht Mut und Phantasie, um aus der Spirale von Gewalt und Gegengewalt auszusteigen. Aber auch scheinbar kleine Schritte der Verständigung und Zeichen der Versöhnung sind ein Beitrag zum Frieden. Friede will immer wieder neu gewonnen werden – in Gedanken, mit Worten und mit Taten. Vor allem ist es der Einsatz für Gerechtigkeit – im Kleinen und im Großen, im persönlichen Umfeld wie im weltweiten Horizont – der die Verheißung des Friedens hat.

Der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge lädt in jedem Jahr Tausende Jugendliche zu seinen internationalen Workcamps ein. Bei der Arbeit zur Pflege der Kriegsgräber kommt es zu Begegnungen über die nationalen Grenzen hinweg. Auch dies ist ein Beitrag zur Verständigung und zur Überwindung von Gewalt. Wo Menschen füreinander ein Gesicht bekommen, ist ein wichtiger Schritt zum Frieden getan. Wo Menschen Opfer von Gewalt und Krieg werden, wird ein Tag wie der Volkstrauertag zur Mahnung, dass Gewalt ein Ende nehmen muss.

Deshalb bitten Christen auch an diesem Tag: „Richte, Gott, unsere Füße auf den Weg des Friedens.“ Aus dieser Bitte erwächst die Kraft, Schritte auf dem Weg der Versöhnung zu tun. Gemeinsam mit allen, die die Hoffnung auf einen Frieden in Gerechtigkeit teilen.

Und nun wollen wir der Toten gedenken:

Wir denken heute

an die Opfer von Gewalt und Krieg,

Kinder, Frauen und Männer aller Völker.

Wir gedenken

der Soldaten, die in den Weltkriegen starben,

der Menschen, die durch Kriegshandlungen

oder danach in Gefangenschaft, als Vertriebene

und Flüchtlinge ihr Leben verloren.

Wir gedenken derer,

die verfolgt und getötet wurden,

weil sie einem anderen Volk angehörten,

einer anderen Rasse zugerechnet wurden

oder deren Leben wegen einer Krankheit oder

Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurde.

Wir gedenken derer,

die ums Leben kamen, weil sie Widerstand

gegen die Gewaltherrschaft geleistet haben,

und derer, die den Tod fanden, weil sie an

ihrer Überzeugung oder an ihrem Glauben

festhielten.

Wir trauern

um die Opfer der Kriege und Bürgerkriege

unserer Tage, um die Opfer von Terrorismus

und politischer Verfolgung.

Wir gedenken heute auch derer,

die in diesem Jahr bei uns durch Hass und

Gewalt gegen Fremde und Schwache Opfer

geworden sind.

Wir trauern

mit den Müttern und mit allen, die Leid

tragen um die Toten. Aber unser Leben steht

im Zeichen der Hoffnung auf Versöhnung

unter den Menschen und Völkern, und

unsere Verantwortung gilt dem Frieden unter

den Menschen zu Hause und in der Welt.