Erntedank 2002

 

Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen. (Psalm 37,5)

Die Ernte dieses Jahres hat unter dem vielen Regen gelitten. Die Bauern mussten Einkommensverluste hinnehmen. Der starke Regen hat im August eine Flutkatastrophe an der Elbe und ihren Nebenflüssen ausgelöst. Viele Häuser und Ortschaften wurden zerstört. Menschenleben sind zu beklagen, der materielle Schaden geht in die Milliarden. Viele Menschen sind erschöpft und verzweifelt. Eine Welle der Hilfsbereitschaft lässt die Deutschen in Ost und West erneut zusammenwachsen. Der Aufbau Ost muss in manchen Gegenden ein zweites Mal angepackt werden. Die Regierenden stehen vor ungewöhnlichen Herausforderungen.

Da begegnet uns dieses altvertraute Bibelwort: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen (Psalm 37,5). Wie können wir noch Gottvertrauen aufbringen nach solchen individuellen und nationalen Katastrophen? Ist es nicht eher eine übernatürliche Macht, die uns zu aller erst diesen Schaden verursacht hat? Was heißt da: Gott wird es wohl machen? Hat er es nicht gerade schlecht gemacht?

Bei näherer Betrachtung entdecken wir, dass die Katastrophe nicht über uns gekommen ist wie ein böses Schicksal. Es gibt Regen und Platzregen und anschwellende Flüsse. Unser kollektives Gedächtnis reicht nicht weit genug zurück zur „sächsischen Sintflut“ im 19. Jahrhundert. Wir schieben die Verantwortung von uns für die Erwärmung des Klimas, die Regulierung der Flüsse, die Vernachlässigung der Deiche, die landwirtschaftliche Nutzung der Flussniederungen, die dichte Besiedlung gefährdeter Flussufer. Und dann kommt der Tag, an dem sich das alles miteinander verbindet zu einer brisanten Mischung, die unsere bisherige Vorsorge überfordert und in Frage stellt.

Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen (Psalm 37,5). Ist das etwa ein Grund, auf die notwendige Sorgfalt menschlicher Planung zu verzichten? Wir merken: Das Bibelwort ist keine Garantie für ein unbeschwertes Leben fern aller Bedrohungen und Gefährdungen. Es ist auch keine Einladung zu sorglosem Stillhalten angesichts der Herausforderungen unserer Zeit. Wir Menschen müssen mit Schlimmem (manchmal auch mit dem Schlimmsten) rechnen, wir müssen Vorsorge treiben und Gefahrenabwehr klug und verantwortlich planen. Wir müssen mit den Kräften der Natur (Wasser, Feuer, Sturm, Schnee und Erdbeben) rechnen und etwas Paradoxes zustande bringen: ihnen Platz geben und sie eindämmen zugleich.

Wenn wir dann an unsere Grenzen kommen, äußerlich und innerlich, wenn die Kräfte der Bewältigung eine Zeitlang nicht zu reichen scheinen, dann brauchen wir jenes Vertrauen, das uns neue Ressourcen und neue Kräfte erschließt: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen (Psalm 37,5). Mitten in die menschliche Anspannung und Überforderung wird die Perspektive der Zeit und die Perspektive der Hilfe gegeben durch ein tröstliches Wort. Wir müssen nicht alles sofort schaffen. Wir dürfen vertrauen, dass es für uns Raum und Zeit gibt zu gestalten, und vor allem: dass es Hilfe von außen gibt, die uns hält und unterstützt, und Hilfe von innen durch ein mutiges und nie verzagendes Herz. Das ist der Sinn dieses Psalmworts, das über dem schwierigen Erntedankfest 2002 steht: Befiehl dem Herrn deine Wege und hoffe auf ihn, er wird's wohl machen (Psalm 37,5). Möge es tröstlich klingen und auferbauend wirken für die, die sich in diesen Tagen mit aller Kraft mühen, die eingetretenen Schäden zu beseitigen und voller Mut ein neues Leben anzupacken.

Propst Peter Godzik