Heilige Schriften sind keine einfache Lektüre. Nur bemerken wir das kaum, wenn wir das Alte oder Neue Testament zur Hand nehmen und uns damit auf dem Feld unserer eigenen Tradition bewegen. Vieles ist uns seit Kindertagen vertraut. Werden Noah oder David oder Jesus und seine Jünger genannt, dann klingen in unserm Innern Vorstellungen an, die nach den uns geläufigen biblischen Erzählungen geprägt sind. Wir wissen z.B., dass Noah die Arche baute, die Tiere in ihr barg, die Taube zur Erkundung des Landes aussandte.
Wie eigenartig muss uns darum berühren, was der Koran über Noah erzählt, wie dürftig und nüchtern! Und wie befremdlich mutet uns Noahs Wunsch an: „Mein Herr, lass auf der Erde keinen ungläubigen Bewohner! Wenn du sie dort lässt, werden sie deine Knechte in die Irre führen und nichts als ungläubige Missetäter gebären. Mein Herr, vergib mir, meinen Eltern und jedem, der mein Haus als gläubiger Mensch betritt, und auch allen gläubigen Männern und Frauen, und stoße die Frevler immer tiefer ins Verderben!“ (Sure 71,26-28)
Schwer zugänglich, fast verschlossen, erscheint uns die Gedankenwelt der heiligen Schrift des Islam an vielen Stellen. Mit Mühe quält man sich durch die längeren Suren hindurch, gerät in Verwirrung wegen des oft unvermittelten Themenwechsels, vermisst den roten Faden. Dunkel erscheint uns der Sinn der kurzen Suren mit ihren Schwüren und Anrufungen – verständlich allein die Ausmalung des Paradieses, die drastische Schilderung der Schrecknisse der Hölle.
All dies erscheint doch furchtbar grob, als eine Aufzählung sinnlicher Phantasien. Gibt es im Koran überhaupt Zeichen einer vertieften Religiosität, einer aufrichtigen Frömmigkeit? Seit dem Mittelalter hat die christliche Polemik gegen den Islam diese Frage mit Nein beantwortet.
Doch was sagen die Muslime selber? Muhammad Abduh, einer der wichtigsten islamischen Reformer des ausgehenden 19. Jahrhunderts, beschreibt die Rolle des arabischen Korans als die der einenden Grundlage einer umfassenden islamischen Gesellschaft: „Der Koran ist Gottes treffendes Zeugnis für seine wahre Religion. Mithin wird der Islam allein dadurch fortbestehen können, dass der Koran richtig verstanden wird. Das richtige Verständnis des Korans wird aber nur dadurch erhalten bleiben, dass die arabische Sprache fortlebt.“
Jeder, der den Islam angenommen habe, müsse sich um die Meisterung des Arabischen bemühen, um auf diese Weise ein Glied der Gemeinschaft zu werden, deren Lebensmitte das in arabischer Sprache geoffenbarte ewige Gotteswort sei. Der Islam verbiete jeglichen Rassendünkel und Chauvinismus und habe alle Gläubigen für einander gleich erklärt.
Die Gefährdung der richtigen Kenntnis des Korans, dessen Inhalt nur auf Arabisch und nicht in Übersetzungen erfasst werden könne, ist für Muhammad Abduh zugleich eine Gefährdung des Islam an sich: „Gott hat uns aufgetragen, den Koran zu durchdenken, sich durch ihn warnen, mahnen und rechtleiten zu lassen und zu wissen, welche seiner Verse und Mahnworte wir bei unserem Gebet hersagen. Er hat diese Fragen in zahlreichen Versen hervorgehoben. Ihnen zu gehorchen und nach ihnen zu handeln, vermag man aber nur, wenn man das reine Arabisch versteht. Wir glauben, dass die Muslime nur deshalb schwach wurden und ihr großes Reich, das sie zuvor besessen hatten, dahinschwand, weil sie sich von der Rechtleitung des Korans abwandten. Nichts von ihrer verlorenen Größe, Herrschaft und Würde werden sie zurückgewinnen, ohne zu seiner Rechtleitung zurückzukehren und sich an sein Seil zu klammern.“
Der Ruf zum Koran sei zugleich ein Ruf zur arabischen Sprache, meint Muhammad Abduh und zitiert Sure 8,24-26: „Ihr, die ihr glaubt! Seid Gott und dem Gesandten zu Willen, wenn er euch zu etwas aufruft, das euch Leben bringt! Wisset, dass Gott zwischen den Menschen und sein Herz tritt und dass ihr zu ihm versammelt werdet! Nehmt euch in acht vor einer Heimsuchung, die nicht insonderheit die Frevler unter euch treffen wird! Wisset, dass Gott streng bestraft! Erinnert euch! Damals wart ihr wenige, unterdrückt im Lande, und musstet fürchten, dass die Leute euch verschleppen würden. Er aber hat euch Herberge gegeben, euch mit seiner Hilfe gestärkt und euch aus guten Dingen Lebensunterhalt gewährt. Vielleicht dankt ihr dafür.“
Der Koran ist die eine und universale Grundlage der islamischen Religion, Kultur und Politik. Muhammad Abduh erinnert an die oben genannten Verse des Korans, um zu verdeutlichen, dass die Muslime ihre alte politische und militärische Stärke zurückgewinnen könnten, würden sie sich wie zu Muhammads Zeiten unter dem Banner des Korans zum Kampf gegen die Ungläubigen bereit finden.
Saijid Mahmud Taliqani, ein führendes Mitglied der iranisch-schiitischen Geistlichkeit, beschrieb 1955 die für ihn glückhaften Erfahrungen in der Beschäftigung mit dem Koran: „Jene lichtvolle Welt, jener strahlende Bezirk, in den der Koran den Menschen führt, ist die Welt der Einheit: Einheit des göttlichen Wesens, der Macht, des Lebens, der ewigen Existenz des Schöpfers; Einheit der Ordnungen, Bindungen, Gesetze der Welt; Einheit des Wollens; Einheit des Denkens und der Kräfte und des Willens des Menschen. Die Erzählungen des Korans sind ganz und gar vom Lichte der Einheit durchdrungen und eingehüllt.“
Die erste Botschaft aller Propheten sei die Verkündigung des einen Schöpfergottes. Er allein halte die Welt in Gang; er allein könne verlangen, vom Menschen verehrt zu werden. Die Botschaft an die Propheten solle aber nicht nur die einzig verbindliche Form der Gottesverehrung begründen. „Die Einheit des höchsten Wesens und der Gottesverehrung war nur die gedankliche und praktische Grundlage und Vorbedingung für die Einheit des Gehorsams. Dies ist das tiefste Geheimnis der prophetischen Mission für das Glück der Menschheit. Die Freiheit, die Gleichheit und die Reifung des Menschen entspringen aus diesem Inhalt der Gotteserkenntnis und des Einheitsbekenntnisses. Der Koran sagt: Alle Propheten riefen zum Islam, um die Menschen von aller Knechtung, allem Gehorsam gegenüber anderen als dem Schöpfer zu befreien und sie dem Gehorsam Gottes zu unterwerfen, der die absolute Wahrheit, Gerechtigkeit, Weisheit ist, und um das menschliche Denken und Wollen aus den Ketten falscher Knechtschaft, falscher Ideen und Bräuche zu lösen.“
Der Koran ist also nicht nur die eine Quelle islamischer Gotteserfahrung und Frömmigkeit, er enthält zugleich die einzig wahre Möglichkeit islamischer Weltbemeisterung; er ist eine ewig gültige Richtschnur des Handelns. Noch viel stärker als der Christ bezeugt der Muslim tagtäglich, dass seine Erfahrungswelt und seine Weltanschauung durch und durch vom Wort seiner heiligen Schrift geprägt sind. Wenn daher der christliche Leser Zugang zum Koran sucht, so muss er sich vergegenwärtigen, dass die Schwierigkeiten des Verständnisses, die sich ihm entgegenstellen, nicht zuletzt daher rühren, dass ihm das Assoziationsfeld, welches beim Muslim während des Hörens eines bestimmten Verses mitschwingt, unbekannt ist. Das Umgekehrte gilt für den Muslim, der die Bibel studiert.
In einem Leseseminar, beginnend am 21. Oktober 2004, wollen wir an zwölf Abenden, jeweils um 19.30 Uhr im Petri-Forum in Ratzeburg, Texte aus Bibel und Koran, die den gleichen Überlieferungsstoff ansprechen, miteinander vergleichen. Dabei geht es nicht um die Frage einer womöglich direkten Abhängigkeit des Korans von den entsprechenden biblischen Vorlagen. Vielmehr kommt es darauf an, aus dem Dialog der Texte die jeweils besondere religiöse Sprache herauszuhören und zu verstehen, das je eigene Profil zu erkennen und von der ungewöhnlichen Zusammenschau (Synopse) her zu einer Deutung zu gelangen, die der biblischen oder koranischen Botschaft entspricht. Herzliche Einladung dazu!
Literaturhinweise:
Johann-Dietrich Thyen, Bibel und Koran. Eine Synopse gemeinsamer Überlieferungen, Köln: Böhlau 32000.
Hartmut Bobzin, Der Koran. Eine Einführung, München: C.H. Beck 32001.
Tilmann Nagel, Der Koran. Einführung – Texte - Erläuterungen, München: C.H. Beck 42002.