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Reinhold Schneider

Reinhold Schneider über Otto III.

... Es ist in Rom. Das entsetzliche Gericht, das der junge Kaiser [Otto III.] im Vorjahr (998) an den Aufrührern vollzog, ist noch nicht vergessen: der Konsul Crescentius, der Führer des Aufstandes, war auf der Engelsburg enthauptet worden, der griechische Gegenpapst ward unter Beschimpfungen auf einem Esel durch die Stadt geführt, das blutig verstümmelte, der Augen, der Nase und Ohren beraubte Gesicht war dem Schwanze zugekehrt.

Aber was sind alle Greuel der Erde gegen das Krachen des Himmels, die Erschütterung seiner Kräfte? Was ist Angst gegen religiöse Furcht? Die Menschen sind aus den Häusern auf die Hügel geflüchtet und starren zum Himmel. ...

Mit dem Lebensdrama Ottos III., des jungen Kaisers, erschließt sich uns vielleicht die Zeit - vielleicht mehr: christlich-geschichtliches Dasein überhaupt, in dem irdische und himmlische Schrecken und Hoffnungen auf unauflösliche Weise kämpfend ineinander verschlungen sind. Seine Gestalt wurde lange nicht richtig gesehen, wurde zu sehr ins Romantisch-Weiche verschoben. Er war kein "tatenloser Mann", als welchen Platen ihn sich ausklagen ließ.

Erst im neueren Schrifttum tritt er überzeugender hervor: in der Tatsache, daß er sofort nach seinem Regierungsantritt Kaiserin Adelheid vom Hofe verwies, kann man doch wohl ein Streben nach Selbständigkeit sehen. Das unbarmherzige Niedertreten des römischen Aufstandes hat mit Schwärmerei nichts zu tun: auch die große Idee seines Lebens, die Erneuerung des antiken Imperiums, die Verschmelzung von Byzanz und Rom in der Bindung an das Ottonische Reich, dessen Welt einende Herrschaft unter der Krone solchen Erbes, ist doch wohl eher die Konzeption einer sich übersteigernden Cäsarennatur als Schwärmerei.

Er residierte auf dem Aventin, der damals ein reich bebauter Stadtteil war, keine Parkidylle; Rom und Byzanz suchte er in seiner Kleidung, im Zeremoniell zu verschmelzen.

Der junge Kaiser - der gewiß vielfach irrte im Wollen und Erkennen, in der Einschätzung seiner Möglichkeiten und schon sich der Heimat entfremdend - war in vielem ein Vorläufer Friedrichs II., seine Vorgestalt: wer so stark das imperatorische Erbe Roms bejaht, ist fest an die Erde gebunden, und doch verzehrte sich seine Seele in religiöser Sehnsucht. ...

Und wenn Otto III. nach Monte Cassino wallte auf den Monte Gargano, wenn er sich vor Einsiedlern demütigte und einem solchen seine Krone in die Hände legte, so war das keineswegs eindeutige Weltflucht: es war vielmehr das leidenschaftliche Ringen um Gnade über seiner Herrschaft, das wenn vielleicht auch in befremdenden Formen sich ausdrückende Mühen, sie vom Letzten her zu befestigen und zu stärken, cäsarischen Stolz zu opfern, um christlicher Cäsar zu werden über Deutschland, Rom, Byzanz, oder ganz einfach das Unmögliche, das die Grabschrift seines Großvaters zusammenfaßte: König und Christ und Zierde der Heimat.

Diese einander widerstreitenden und zugleich unterstützenden Tendenzen erschienen in der Pilgerfahrt nach Gnesen, die Otto im Rätseljahr 1000 unternahm. Er kniete büßend am Grabe des Erzbischofs Adalbert von Prag, der als Missionar unter den Preußen an der Küste Samlands das Martyrium erlitten, stiftete das Erzbistum und erkannte Herzog Bolislav in fast königlicher Würde an.

Dann, in der Absicht, nach Italien, in die Welthauptstadt Rom zurückzukehren, zog er über Magdeburg und Quedlinburg nach Aachen: er wollte gewissermaßen seinem Erbe, dem Reiche selbst ins Antlitz blicken, ließ im Dom zu Aachen Kalk und Marmor über der Gruft Karls des Großen entfernen und stieg hinab. Verwesungsgeruch schlug ihm entgegen. Die Leiche des gekrönten Kaisers saß fast unversehrten Gesichts auf einem Stuhle. Er ließ sie mit weißen Gewändern bekleiden und das Gemach vermauern. Vielen mag die Öffnung des geheiligten Grabes als eine Art Frevel erschienen sein. Der Kaiser, wurde erzählt, sei Otto im Traum erschienen und habe ihm seinen frühen Tod angesagt.

Ein Schein von Dämonie umflimmerte den kaiserlichen Jüngling und seinen Freund, den jetzigen Papst: dieser hatte vor zwei Jahren in Magdeburg zur Verwunderung der Menschen durch ein Rohr den Polarstern beobachtet. Es hieß, daß er sich in Rom damit beschäftige, das Himmelsgewölbe in einem Globus abzubilden.

Aber alsbald empörten sich die Römer wieder gegen den asketischen, griechisch-römischen Cäsaren auf dem Aventin; sie schlossen ihn in seinem Palaste ein. In bitterem Schmerze kämpfte er sich mit wenigen Getreuen aus der Stadt. Auch die Freunde fielen ab. In den Straßen floß Blut. Als bald darauf die griechische Prinzessin, um die der Kaiser hatte werben lassen, in Unteritalien landete, mußte sie erfahren, daß der Kaiser in Paterno unter dem Soracte gestorben war (1002).

Rom und Byzanz sollten sich nicht mehr vereinen lassen, von Rom sollte die Weltordnung nicht ausgehen, Rußland folgte Byzanz. Otto III. blieb unvermählt, wie nach ihm unter den Kaisern nur Rudolf II., der an der Schwelle des Dreißigjährigen Krieges von der Prager Burg die Welt im apokalyptischen Lichte gesehen haben mag wie der geniale Jüngling, der zu Füßen Karls des Großen sein Grab fand.

In dem Lebensdrama Ottos III., soweit wir es uns einigermaßen vorzustellen vermögen, erscheint der bezeichnende abendländische Geschichtsgehalt: Untergang und Aufgang als Eines, wie ja auch tausend Jahre zuvor Endes-Schauer und Friedenshoffnung die Völker durchwehten: die Welt, sagt die berühmte in Priene aufgefundene Inschrift aus dem Jahre 9 Christi Geburt, wäre dem Untergang verfallen, wenn nicht in dem nun Geborenen für alle Menschen ein gemeinsames Glück aufgestrahlt wäre. Der nun Geborene ist Augustus - und die Völker sollten Jahrhunderte brauchen, bis sie zwischen dem Frieden des Augustus und dem Frieden Christi unterscheiden konnten.

Daß die beiden Friedensreiche, das der staatlichen Ordnung und das von innen, sich vereinigen, daß das Innere das Äußere durchwirken sollte: daß dies niemals gelang, daß ein jedes ein Ende, jedes einen Anfang setzt, das gehört zum tragischen Fortgang unserer Geschichte. Es ist der Grund, warum sie nicht enden kann. Und dieses Nicht-enden-Können - bis Gott das Ende setzt - ist ihre Größe.

Trotz des Zusammenbruches des Ottonischen Reiches nach des jungen Kaisers Tod war die Welt reicher an tragfähigen Kräften, als die Menschen um das Jahr 1000 geglaubt hatten: Heinrich II., Konrad II. konnten unter wechselvollen Kämpfen Form und Grenzen wieder befestigen. Unter diesen, im Jahre 1033, verbreitete eine Sonnenfinsternis aufs Neue apokalyptisches Entsetzen.

In Wahrheit sind wohl in jedem Jahrhundert in einer jeden Generation Boten des Endes aufgetreten: sie sind Vorboten des Tages, der, auch dem Sohne verborgen, als unerschließbares Mysterium in den Tiefen des Himmels verschlossen ist.

Abgedruckt in: Die Bamberger Apokalypse. Sechzehn farbige Miniaturen auf Tafeln. Mit einem Essay von Reinhold Schneider. Nachwort und Bilderläuterungen von Alois Fauser (= Insel-Bücherei 775), Frankfurt am Main: Insel 1962.