Der Findling (1922)

Aufführungsgeschichte:

uraufgeführt: 1928 Königsberg (Fritz Jessner)

gelesen: 1954 Berlin, Hannover, Hamburg, 1955 Bremen (Kurt Eggers-Kestner)

inszeniert: 1988 Zürich (Joseph J. Arnold), 1997 Berlin (Susanne Truckenbrodt)

Inhalt:

Dieses Drama schrieb Barlach unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges. Im Vorspiel, Mittelstück und Schlußspiel kommen immer neue Personen auf die Bühne und verschwinden wieder, Gestalten in beständiger Flucht.

Nur der Steinklopfer und der Findling sind immer da. Es herrscht Krieg, repräsentiert durch den "Roten Kaiser", Not und Elend. Der Rote Kaiser wird vom Steinklopfer erschlagen, als Mahl zubereitet und den Hungrigen angeboten. Elise, die Tochter des Wucherers, und Thomas, der Sohn des Puppenspielers, sind die einzigen, die sich nicht am Menschenfraß sättigen. Sie nehmen statt dessen den verunstalteten Findling an Kindes Statt an, der sich dann als strahlendes Kind, als Gottesgestalt, entpuppt.

Der Zuhörer muß sich auf eine drastische Sprache mit Flüchen und Schimpfworten einlassen. Auch das Vaterunser ist Barlach ein Anlaß, es auf die von ihm so gesehene Menschennatur umzumünzen: "Führe uns fleißig zum Versuch guter Getränke / Und sende Erlösung uns von übler Verdauung / Denn dein ist der Bereich und die Kraft und die Herrlichkeit der ewigen Gefräßigkeit."

Eine Verletzung religiöser Inhalte wird Barlach jedoch nicht unterstellt; er selbst glaubt sich trotzdem mißverstanden. So schrieb er 1934 an den Verleger Piper: "Sie sehen, ich bin eigentlich ein boshafter alter Affe, aber den Leuten macht es mehr Spaß, mich für einen gutherzigen Theologen zu halten."

Hannelore Dudek in: Ernst Barlach - der Dramatiker, 1995, S. 41.

Im Findling beschreibt Barlach eine apokalyptische Endzeit und greift damit die Gott-ist-tot-Thematik auf, die sich vielfach in der Literatur des 19. Jahrhunderts wiederfindet.

Bei Barlach haben die Menschen durch eigenes Verschulden ihre Welt in ein Sodom und Gomorrha verwandelt. Gott hat die Menschen verlassen. Das Licht ist einer dramatischen Finsternis gewichen und Zerstörung und Verfall haben sich ausgebreitet: Krüppel, Kranke, Zerlumpte und Hungrige kämpfen sich durch Morast, Trümmer und Schlachtfelder.

Der Weg führt die Menschen an einem Steinklopfer vorbei, der sich an der Landstraße einen Windschirm und eine Kochstelle aufgebaut hat. Brutal verteidigt er sein Territorium mit dem Hammer gegen Zudringliche. Ein namenloses Paar vergisst auf der Flucht vor ihm sein unerwünschtes, verkrüppeltes "Elendskind", Bild der Verwahrlosung und Symbol der Hässlichkeit des Lebens.

Als der "rote Kaiser" - Sohn des "guten gelben Kaisers", Bild des christlichen Gott-Vaters und seines fleischgewordenen Sohnes -, um Kost und ein trockenes Lager bittet, wird er brutal erschlagen. Die Tat veranschaulicht den Zustand der Welt: gegenseitige Ausbeutung, Missgunst, Gehässigkeit, Neid und Eifersucht beherrschen die Welt. Als der Steinklopfer die leiblichen Überreste des "roten Kaisers" in seiner Suppe verarbeitet und an die um sein Lager Versammelten verteilt, machen sich alle des elementarsten menschlichen Vergehens schuldig: des Kannibalismus.

Der "rote Kaiser", der vor dem "Menschenfraß" gewarnt hat und ihn mit der Todesstrafe belegt hat, fällt ihm selbst zum Opfer. Die Speisung, eine Anspielung auf das Abendmahl, bringt jedoch das Gute und Schöne in die Welt zurück. Da nach Bekanntwerden ihrer Tat alle ihre Selbstverantwortung und Schuld erkennen - "Gott ist im Menschen, und wer Menschen frißt, frißt Gott" -, wird eine innere Umkehr herbeigeführt.

Thomas und Elise, die den anderen mit Ekel bei ihrem Mahl zugesehen haben, sind nun zu einer Tat der Nächstenliebe fähig. Elise nimmt die ihr zugedachte Mutterrolle ein, indem sie sich des Findelkinds annimmt. Der "Findling" erblüht zu plötzlicher Schönheit und bringt das Licht in die Welt zurück. Er wird zu dem vom "roten Kaiser" prophezeiten neuen Heiland, der nach seinem Tod auf die Welt kommen wird.

Das Geistige und Göttliche ist in die Welt zurückgekehrt, das Leben als Freß- und Verdauungsprozeß aufgehoben. Im Findling, der sich durch Binnengereimtes - viertaktige Reimpaarverse - von der Sprachstruktur der anderen Dramen unterscheidet, wird der Einfluss Shakespeares und Goethes auf Barlach deutlich.

Andrea Fromm, Materialsammlung, in: Barlach auf der Bühne, Hamburg/Güstrow 2007, S. 284.

Kritik:

Barlach hat auch als Dichter das unbeirrbare Gefühl. Aber er hat mit dem spröden Wortmaterial nicht in derselben Ausgiebigkeit gerungen wie mit dem Material seiner Plastiken, dem Holz. So gelingt ihm als Wortbildner - aus seinem Gefühl heraus - das Große unfehlbar; das Kleine, das Einzelne aber gerät - aus Mangel an handwerklicher Sicherheit, an Vertrautheit durch jahrelange Schulung - vielfach daneben. ... Barlach krampft, kratzt, drückt. Er überlädt, übertrumpft. Er führt manchesmal ein richtiges Prinzip nur äußerlich - also falsch durch. Er ist im Sprachlichen ohne die Sicherheit und Klarheit der Materialbehandlung, die für seine Plastiken zwar auch nicht das Entscheidende ist - denn das liegt in der Formwerdung der Intuition - sie aber doch als Kunstwerke zur Vollkommenheit werden läßt.

Hans Franck, "Der Findling". Ein Spiel in drei Stücken. Mit Holzschnitten von Ernst Barlach. Berlin, Paul Cassirer, 77 S. [1922], in: Elmar Jansen (Hg.), Ernst Barlach: Werk und Wirkung. Berichte, Gespräche und Erinnerungen, Berlin: Union 1972, S. 132-135.