Die Regenbogenzeit®
Aus: Ruthmarijke
Smeding/ Margarete Heitkönig-Wilp
(Hg.), Trauer erschließen –
eine Tafel der Gezeiten, Wuppertal: hospiz 2005, S.
267 ff.
In der Trauerarbeit wird häufig das
Symbol des Regenbogens verwendet. In diesem Modell steht das Symbol des
Regenbogens für den Anteil, den der Betroffene selbst aktiv in einem
begleiteten Trauerprozess leistet. Die Regenbogenzeit schafft eine Perspektive
für die Zukunft: Zu Beginn des Trauerweges liegt die Möglichkeit, dass die
Situation einmal anders und besser wird, noch in weiter Ferne. Zunächst
überwiegt das Gefühl: „Es wird
irgendwann auch einmal anders sein“. Insbesondere in der Januszeit
überwiegen die Gefühle, „dass es nie
besser wird“. In dieser Zeit ist es wichtig, durch andere Trauernde die
Bestätigung zu erhalten, dass es eine Perspektive gibt und man Fähigkeiten und
Möglichkeiten entwickeln wird, mit dem Verlust umzugehen.
Schon bald macht man erste Erfahrungen
der Regenbogenzeit. Diese werden in der Regel zunächst als unglaubwürdig oder
als „zu peinlich“ empfunden; daher werden sie verdrängt. Mit der Zeit werden
die Erfahrungen jedoch als Ankündigungen gesehen, dass man Fähigkeiten
entwickeln wird, mit der Trauer weiterleben zu können. Die ersten Regenbogenzeiterfahrungen lassen in sich hineinhorchen: „Wie erlebe ich die Situation, dass ich hier
bin und du dort?“ Solche Erfahrungen verlieren immer mehr ihren
Schrecken und man freut sich, dass der andere auf andere Art und Weise am Leben
teilnimmt.
Nach dem Verlust einer geliebten Person
wird der Sinn des Lebens angezweifelt. Wenn man das Gefühl bekommt, dass die
Regenbogenzeiten überwiegen, ändert sich dies. Immer häufiger hat man
Erlebnisse und macht Erfahrungen, die das Leben doch wieder lebenswert machen.
Auch gute Erfahrungen gehören wieder zum Leben. Die „Regenbogenzeiterfahrungen“
zeigen, sei es manchmal auch nur für den Augenblick, dass es gehen wird.
Manchmal reicht bereits der Gedanke, dass der/ die andere nun zumindest nicht
mehr leiden muss, um Erleichterung zu fühlen. Man merkt, dass man sein Leben
zumindest hier und jetzt leben kann. Für einen kurzen Moment kann man sogar
alles verstehen. Es gibt Momente, in denen es ist, als würde eine Sternschnuppe
vom Himmel fallen. Dies sind schöne Augenblicke, in denen man sich fast sogar
ein bisschen euphorisch fühlt. Doch direkt danach fragt man sich, ob das denn
wirklich sein kann oder ob man sich alles nur einbildet.
Mit der Regenbogenzeit ist nicht gemeint,
dass man sich die verstorbene Person sozusagen aneignet, d.h. ihr Dasein
stellvertretend übernimmt und sie weiterleben lässt. In der Januszeit scheint
dies für kurze Zeit den Schmerz erträglicher zu machen und es kann in der
ersten Zeit eine Unterstützung sein, überhaupt durchzuhalten. Die Januszeit ist
die Zeit, in der das „Entweder – oder“ gelebt wird, die verstorbene Person
bleibt im Alltag präsent und ihre Persönlichkeit wird von den Lebenden
übernommen. Man darf jedoch nicht in dieser Zeit stehen bleiben. Das sind dann
keine Regenbogenzeiterfahrungen. In den Regenbogenzeiterfahrungen geht es um die eigene Beziehung
zur verstorbenen Person, die in einem Prozess in das eigene Leben integriert
werden: „Du bist gestorben und ich
lebe weiter. Mein Leben ist bereichert durch das Leben mit dir.“ Das
eigene Leben ist durch die gemeinsame Zeit geprägt.
Ich bin immer wieder beeindruckt davon,
wie genau die meisten Trauernden sagen können, ob und wann sie Regenbogenzeiterfahrungen erlebt haben. Sie können deutlich
sagen: „ja, nun überwiegen diese
Erfahrungen, ich bin in die Regenbogenzeit eingetreten.“ Die Spannungen
des „Entweder – oder“ der Januszeit haben sich gelegt und man verfügt nun über
die Fähigkeit, mit Herausforderungen umzugehen. Auf dem Weg durch das Labyrinth
hat man neue Fähigkeiten entwickelt, manches hat sich bewährt und manches hat
sich nur verändert. Während Trauernde in der ersten Zeit öfter in ihrer inneren
Welt verweilen, wenden sie sich in der Regenbogenzeit wieder dem Leben zu. Die
Hinwendung zum Leben in der Regenbogenzeit ist kein Schritt (sic!), sondern ein Lernprozess. Sich seinem veränderten
persönlichen Leben mit allen seinen neuen Herausforderungen zu stellen, ist
nicht mal eben „getan“. Eine verinnerlichte Beziehung zur verstorbenen Person
aufzubauen, gelingt mit der Zeit immer besser.
Manchmal hat es den Anschein, man stünde
wieder am Anfang: Man hat das Gefühl, nichts geschafft zu haben, es ist, als
hätte man einen „Rückfall.“ Das ist eine Januszeiterfahrung
in der Regenbogenzeit. Schematisch gesehen sind die Gezeiten in der Spirale
hintereinander angeordnet. In Wirklichkeit erlebt man Januszeitstunden oder
sogar Tage, obwohl man bereits in der Labyrinthzeit oder in der Regenbogenzeit
ist. Über die Zeit, mit ein wenig Abstand, wird deutlich, dass diese Tage immer
seltener werden. Es ist nach wie vor anstrengend, aber es ist schon leichter
geworden. Anfangs schien es unmöglich, „sich dem Leben zuzuwenden“. Nach und
nach ändert sich das Gefühl, doch erst im Nachhinein kann man die Veränderungen
richtig verstehen und überblicken. Das „Entweder – oder“ verändert sich. Es
gelingt immer besser, neue Wege zu finden,
dem „Und ... und“ einen Platz im Leben zu geben.
Dies geschieht nicht ohne weiteres, denn
Veränderungen bringen mit sich, dass man einen früheren Lebensring hinter sich
lässt. Manchmal unterstützen enge und treue Freunde diesen Prozess, sie gehen
mit einem durch dick und dünn. Man kann auch enttäuscht werden. Enttäuschungen
sind häufig, wenn man nicht erkennt bzw. vergisst, dass nicht nur man selbst,
sondern auch der Freund einen Verlust erlitten hat. Die früheren Freunde
verändern sich in dieser Zeit ebenfalls. Sie müssen sich verändern, um mit dem
Verlust weiterleben zu können. Freunde können die Situation oft aushalten und „abwarten“,
in der Hoffnung, dass man wieder der/ die Alte wird. Meistens zerschlägt sich
diese Hoffnung. Die erneuerten oder neuen Fähigkeiten, die man lernen muss, um
mit dem Verlust leben zu können, werden gerade im engen Kreis manchmal
unbarmherzig getestet: Die Veränderung des Betroffenen ändert die bisherigen
Beziehungen für die Zukunft. Manchmal brauchen beide Seiten Abstand. Vielleicht
kann man sich nach einiger Zeit wieder treffen, aber Freundschaften gehen in
solchen Zeiten auch oft auseinander.
„Und
ich lebe weiter und ich trage dich in mir“ oder „Und ich lebe weiter, und du bist gestorben und hast einen anderen
Stellenwert für mich eingenommen“. Eine erste Ahnung, ein erstes
Aufleuchten der Regenbogenzeit, kommt oft schon mit dem ersten herzhaften
Lachen (und damit einhergehend stellen sich oft Schuldgefühle ein: „Wer
trauert, lacht nicht!“). Um die Trauer als Verbindung zur verstorbenen Person
überflüssig werden zu lassen, lernen Trauernde dieses Und („...und ich lache“, „...und
ich verlasse dich dadurch nicht“) einzusetzen. Es ist eine neue und wichtige
Erfahrung zu erkennen, dass Lachen weder der geliebten Person noch einem selber
schadet. Zunächst wird Lachen als „Untreue“, als „untreu sein in meiner Beziehung
zu dir“ erlebt. In kleinen Schritten lernt man, sich selbst und seinen Fähigkeiten
zu vertrauen. „Ich lache, aber d.h.
nicht, dass ich dich dadurch vergesse und verlasse!“ Das ist ein
schwerer Weg, auf dem man Ermutigung und Unterstützung ebenso braucht, wie
positive Erfahrungen. Auf diesem Weg und durch diese Erfahrungen erhalten die
Verstorbenen ihren Platz im Leben der Trauernden, verändert sich für eine
Gruppe der Trauernden die Ambivalenz in „Amphivalenz“.
Das gilt nur für diejenigen, die jetzt abschließen.
Nach einiger Zeit ist nicht mehr so wichtig,
dass die Beziehung im Vordergrund steht. Durch die intensive Trauerzeit hat die
Beziehung eine neue Qualität erhalten, sie befindet sich auf einer anderen
Ebene. Die Trauernden haben sich ihre Beziehung und den Umgang mit den Verstorbenen
neu erschlossen. J.W. Worden spricht
davon, dass die Beziehung zur verstorbenen Person emotional einen anderen Platz
erhalten muss. Ich denke, dass dies, zumindest wenn man im Leben regelmäßig
zusammen war, auch im Alltag der Fall sein muss. Es braucht Zeit, um die
geliebte Person nicht am selben Ort wieder zu erwarten und um sich daran zu
gewöhnen, dass er oder sie, wo immer man ist, bei einem ist. Die neue
Beziehung, die man jetzt hat, ist so gewünscht. Hier gestaltet sich ein
wichtiger Unterschied zur Trauer nach Scheidung: Zu dieser Beziehung gibt es „nur“
die eigene Erfahrung.
Der letzte Teil dieses Buches enthält
einige Geschichten aus der Schreibwerkstatt, in denen Menschen von ihren
Erfahrungen berichten. Manche kehren oft zu der neuen Beziehung, die sie mit
den Verstorbenen haben, zurück, andere weniger oft; oder sie tun dies nur an
spezifischen Tagen des Lebens: an Gedenktagen, Feiertagen, den Wendepunkten im
Leben der Kinder usw. Vor kurzem hörte ich von einer Mutter, die mehr als 10
Jahre nach dem Tod ihres Sohnes, seine Freunde immer noch zu seinem Geburtstag
einlädt. Die Freunde, selbst schon längst verheiratet, kommen jedes Jahr zu
dieser Feier.
„Unsere Kinder haben
sich angewöhnt“, sagte mir jemand, „jedes Jahr zu unserem Hochzeitstag zu einem
gemeinsamen Essen nach Hause zu kommen“. Obwohl der Vater schon lange
nicht mehr lebt, kommt man auch heute noch – weil er Teil dieser Familie war
und ist –zusammen. Dies geschieht zur Ehre des Vaters, es ist ein Vermächtnis
an ihn in ihrem Leben, das am Hochzeitstag wieder auflebt. Es ist ein Teil des
Lebens dieser Familie, der einen Jahresring ausmacht und den nächsten entstehen
lässt. In diesem Fall hat sich die Beziehung zum Verstorbenen geklärt.
Manche Menschen können alles hinter sich
lassen. Für andere ist die Beziehung zu einem inneren Zufluchtsort geworden, an
den sie sich zurückziehen können oder an den sie an bestimmten Jahrestagen
freiwillig (sic!) zurückkehren. Untersuchungen, in denen Personen, die nicht
klinisch auffällig wurden, nach einem langen Zeitraum noch einmal nach ihren
Erfahrungen und Gewohnheiten befragt wurden, bestätigen den unterschiedlichen
Umgang mit Jahrestagen und Erinnerungen. Die Studien zeigen, dass sowohl
trauernde Eltern als auch verwitwete Personen bei länger zurückliegenden
Verlusten nach den oben beschriebenen Mustern „beenden, ritualisieren und
integrieren“ handeln. Es gibt sicherlich weitere Muster und mit der Zeit kann
es Veränderungen z.B. vom „Integrieren“ zum „Ritualisieren“ geben.
Zur Beendigung der ersten akuten
Trauerzeit tragen die oben beschriebenen Muster maßgeblich bei. Als
Trauerbegleiter sieht man die betroffenen Personen in der Praxis dann in der Regel
nicht mehr. Weitere Beratung und Hilfe ist notwendig, wenn etwas anderes, z.B.
körperliche Beschwerden, hinzukommt. Wird durch körperliche Beschwerden, durch
Krankheit o.ä. eine neue Krise ausgelöst, kann die
Spirale der Trauer noch einmal eine neue Wendung nehmen. Für kurze Zeit
benötigt die betroffene Person vielleicht weiter Hilfe und Unterstützung. Das
ist nicht als „Rückfall“ zu bewerten, sondern es gab einen „Neuauslöser“, der
das nötig werden lässt, in der Situation ist das normal, es heißt nicht, dass
es einen neuen Trauerbegleitungsprozess gibt, jeder Mensch, der sich in einem
Trauerprozess befindet, könnte wahrscheinlich von Zeit zu Zeit Unterstützung
gebrauchen.
Um jemanden „Weinen“ gibt weder Anlass zu
der Aussage, da habe jemand „noch nicht genug getrauert“, noch ist Weinen ein
ausreichender Grund, alle Trauerbegleitmöglichkeiten in Anspruch zu nehmen.
Manchmal wird der Verlust eines geliebten Menschen ein Leben lang mit Tränen
betrauert. Dass ist kein diagnostisches Symptom. Bestimmte Musik, ein Gedicht,
ein bestimmtes Ereignis können Erinnerungen hervorrufen, die in diesem Moment
erneut Trauer auslösen. Ausschlaggebend ist hier die Reaktion der „trauernden“
Person: Was sagt oder macht jemand außer zu weinen? Wie lange weint die Person?
Was sagt er/ sie selber dazu? Wenn man das Gefühl hat, in bestimmten
Situationen „immer wieder überfallen zu werden“, sollte man versuchen herauszufinden,
woran das liegt. Man kann einfach einmal „einen schlechten Tag“ haben, morgen
wird es schon wieder anders aussehen. Das Beste ist, dem Raum zu geben!
Manchmal helfen Gespräche mit einem Seelsorger, einer Sozialarbeiterin oder
einer guten und erfahrenen Ehrenamtlerin. Man kann
noch nicht davon sprechen, dass die Trauer pathologisch ist. Andererseits ist
es, wenn die Trauer einen im Leben begleitet, notwendig, den Verlust
einzuordnen und ihm einen festen Platz zu geben.
Was geschieht, wenn Trauer doch „pathologisch“
zu werden scheint? Heute stehen viele gute Hilfsangebote zur Verfügung, doch
oft dauert es zu lange, bis diese in Anspruch genommen werden. Der Bedarf an
Angeboten von Kurzzeitinterventionen scheint noch nicht gedeckt zu sein. Ich
hatte Gelegenheit, den Psychiater Dr.
C.M. Parkes zur Dauer der komplexen Trauerbegleitung
zu befragen. Er hält 8 bis 10 Begleitsitzungen für nötig, um zu einem normalen
Trauerweg zurückzukehren. Parkes hat sich während seiner Arbeit als Psychiater mit der
pathologischen Trauer beschäftigt und auf diesem Gebiet viele Erfahrungen
gesammelt. Häufig treten im Bereich der komplexen Trauer weitere
Krankheitsbilder auf. In diesem Fall ist eine gezielte, spezialisierte Beratung
durch Fachleute notwendig. Diese Hilfe geht über den Arbeitsbereich des Modells
„Trauer erschließen“ hinaus.
Die strukturelle Trauerbegleitung ist
Teil des Modells „Trauer erschließen“. Struktur heißt hier vor allem, dass es
gilt, wenn ein begründeter Verdacht auf eine komplexe Trauer besteht, dass Begleiter
bis zu einer Terminwahrnehmung bei Fachleuten begleiten, die sich auf den
Umgang mit pathologischer Trauer spezialisiert haben und weitere Unterstützung
und Betreuung einbringen können. Dies zu unterscheiden und zu lernen, gehört
ebenso, wie vermutlich auch in anderen Kursen, zur Trauerbegleitung, zu den
Inhalten der Schulungskurse „Trauer erschließen“.
Bereits in der Januszeit müssen
Möglichkeiten gegeben sein, Regenbogenzeiterfahrungen
zu benennen, denn sie können bereits in dieser Zeit erlebt werden. Trauer lässt
sich nicht festlegen, sie ist keine Erfahrung, die man immer gleich 24 Stunden
am Tag und 7 Tage die Woche durchlebt. Auch vor dem Tod des Partners oder des
Familienmitglieds hat man die Zeit nicht 7 Tage die Woche rund um die Uhr
gemeinsam verbracht. Die Erinnerung, dass diese Beziehung Wirklichkeit war, ist
intensiv und die Trauer darum schmerzhaft. Die intensive Auseinandersetzung mit
der Beziehung zum Verstorbenen verändert dieses Empfinden. Durch die
Auseinandersetzung wird es möglich loszulassen, zu lernen, das Leben
weiterzuleben. Es wird Zeiten geben, in denen man den Verlust deutlicher
wahrnimmt, in denen einem der geliebte Mensch mehr fehlt, als an anderen Tagen.
Auf lange Sicht gesehen, ist dies gut so, denn die Beziehung bleibt Realität: „Ich habe mir diese Beziehung nicht
ausgedacht, sie ist ein Teil von meinem Leben. Manchmal muss ich in Erinnerung
daran weinen, aber ich bin dankbar für die Erinnerungen“.