Die Arbeit des Trauernden (Y. Spiegel, a.a.O., S. 86-89)

Um einen „normalen“ Trauerprozeß zu gewährleisten, muß der Trauernde eine Reihe von Aufgaben lösen, die sich zusammenfassend beschreiben lassen als Auslösung der Trauer, Strukturierung, Anerkennung der Realität, Entscheidung zum Leben, Aussprechen von gesellschaftlich unakzeptablen Gefühlen und Erfahrungen, Bewertung des Verlustes, Inkorporation des Toten, neue Lebensorientierung.

(1) Auslösung der Trauer: Wesentlich ist, daß der Trauerprozeß in Gang kommt, d.h. der Betroffene sich nicht so verhält, als sei nichts geschehen, den Tod leugnet und sich zwanghaft kontrolliert verhält, sondern bereit ist, sich „gehen zu lassen“ und seinem Schmerz und seiner Trauer freien Raum zu geben. Es fordert Mut, sich dem Prozeß der Regression zu überlassen, da der Trauernde nicht sicher sein kann, wo der Zusammenbruch seiner psychischen Organisation und seiner Daseinswelt enden wird. In einer Gesellschaft, in der Aktivität ein hoher Wert ist, mag es näher liegen, sich durch ständige Überbeschäftigung abzulenken. Aber ohne dies „Sich-fallen-Lassen“ besteht die Gefahr, daß die Trauer behindert und verdrängt wird; sie kann sich dann in anderen Symptomen äußern. Sich gehen zu lassen setzt Vertrauen in das eigene Ich, die soziale Umwelt und in Gott voraus, daß sie dem Trauernden beistehen und ihm gestatten, seinen Gefühlen freien Lauf zu geben, seien es nun Klagen oder Anklagen.

(2) Strukturierung: Der Trauernde sieht sich einem emotionalen Chaos ausgesetzt. Er vermag in keiner Weise abzuschätzen, was er verloren hat; er wird von Liebe und Haß überwältigt, macht unbekannte Erfahrungen, mit denen er nicht umgehen kann. Da der Verlust in die verschiedensten Ebenen seiner Beziehung zu dem Toten und der sozialen Umwelt hineinreicht, ist die Aufgabe, sich hier überall neu zu orientieren, sehr umfangreich. Der Trauernde ist sich im Unklaren darüber, an welcher Stelle er die Aufgabe der Reorientierung beginnen soll; er beginnt viele Tätigkeiten, ohne sie vollenden zu können, da ihm entweder die Kraft dazu fehlt oder ihm die Erkenntnis kommt, daß diese Tätigkeit ohne den Verstorbenen so nicht durchzuführen oder überhaupt sinnlos ist. Es ist eine wesentliche Aufgabe, dieses Gefühlschaos zu strukturieren und bestimmte Prioritäten zu setzen. Dabei dürfte das Wesentliche sein, zunächst das Verhältnis zu dem Verstorbenen zu klären, bevor weitere praktische Entscheidungen zu fällen sind. Die bereits genannte Präokkupation mit dem Verstorbenen sowie die „Egozentrik“ des Trauernden ist auch ein durchaus richtiger Versuch, die überwältigenden Erfahrungen und Gefühle zu strukturieren und Prioritäten in der Trauerarbeit zu setzen.

(3) Anerkennung der Realität: Eine unumgängliche Aufgabe in der Trauerarbeit ist die Anerkennung des eingetretenen Todes. Nur wenn der Tod anerkannt wird, kann er wirklich überwunden werden. Die Durchsetzung des Realitätsprinzips kann nur schrittweise erfolgen und ist immer durch Phasen der Verleugnung unterbrochen. Jede Form des Erinnerns, jeder Besuch des Grabes, jedes Aufsuchen eines Ortes, an dem der Trauernde mit dem Verstorbenen erfüllte Stunden verbracht hat, enthalten ebenso das Glück der Wiedervereinigung wie die schmerzvolle Erkenntnis, daß dies alles unwiederbringlich verloren ist. Diese Erfahrung ist nicht in ihrer. Vollständigkeit ertragbar, sondern wird immer wieder, zurückgenommen; zugleich unternimmt der Trauernde aber stets von neuem die Probe, wieweit er den Verlust ertragen kann. Das widersprüchliche Verhalten, sich einerseits zurückzuziehen und jede Kommunikation zu vermeiden, andererseits aber das starke Bedürfnis, über den Verlust zu sprechen, erklärt sich aus diesem Hintergrund: Der Trauernde möchte nicht an den Verlust erinnert werden, wird aber immer wieder dazu getrieben, sich durch das Gespräch mit anderen zu überzeugen, ob der Verlust nicht doch eingetreten ist, denn es ist letztlich allein die soziale Umwelt, die diese Bestätigung geben kann.

(4) Entscheidung zum Leben: Je stärker die Einsicht in die Realität des Verlustes wächst, desto gravierender stellt sich für den Trauernden die Frage, ob es überhaupt noch Sinn habe weiterzuleben; ob es nicht besser sei, die Anstrengungen der Bewältigung aufzugeben und sich sterben zu lassen. In der regressiven Phase ist es eine Zeitlang unentschieden, ob der Lebens- oder der Todestrieb die Oberhand gewinnen wird. Zuweilen gehen beide gewisse Kompromisse ein, die den Trauernden in dem regressiven Zustand auf Dauer fixieren und damit in eine pathologische Trauerarbeit hineinführen. Jedoch setzt sich in den meisten Trauerfällen der Lebenswille durch, aber wie entschieden und wie rasch dies geschieht, kann sehr unterschiedlich sein. Die Entscheidung zu leben ist freilich eine Aufgabe, bei der der Trauernde nicht nur auf die Hilfe der internalisierten guten Objekte, sondern auch auf äußere Unterstützung angewiesen ist.

(5) Expression unakzeptabler Gefühle und Wünsche: Der Trauernde ist oft erschreckt über die Fülle der negativen Gefühle und Wünsche gegenüber dem Verstorbenen, die ihm nun zu Bewußtsein kommen, nachdem mit dem Tod im starken Maße Emotionen freigesetzt wurden. Er muß mit diesen negativen Gefühlen auf irgendeine Weise fertig werden, wenn er das Ziel der Trauerarbeit, mit dem Verstorbenen in ein solidarisches Verhältnis zu treten, erreichen will. Er kann diese Gefühle durch ungerechtfertigte Erhöhung des Verstorbenen verdrängen; er kann sie gegen sich selber wenden und private Versuche der Sühnung durch verschiedene Formen der Selbstbestrafung unternehmen. Eine positivere Bewältigung ist Jedoch das Aussprechen dieser ambivalenten Gefühle und Vorstellungen gegenüber einem neutralen Dritten.

(6) Bewertung des Verlustes: Ein weiterer Schritt in der Trauerarbeit, der aber erst gegen Ende der regressiven Phase möglich wird, ist die Bewertung des Verlustes. Erst wenn der Trauernde die erhöhte Emotionalität und die damit verbundene regressive Reaktionsform überwunden hat, wird es möglich, deutlicher als bisher abzuschätzen, was mit dem Verstorbenen verlorenging. Der Trauernde kann genauer beurteilen, ob ein Ersatz möglich ist und wie er aussehen könne; es wird möglich, Prioritäten aufzustellen, welche Substitutionen einer vorrangigen Lösung bedürfen. Auch dies ist ohne Komplikationen; es mag den Trauernden erschrecken, wie wenig auch mit einer Distanz gesehen der Verlust zu ersetzen ist, wie umgekehrt, in welch geringem Maße er faktisch auf den Verstorbenen angewiesen war.

(7) Inkorporation des Verstorbenen: Der „normale“ Trauerprozeß geht seinem Ende entgegen, wenn es dem Trauernden gelingt, seine innere und äußere. Welt wiederaufzubauen, in der der Verstorbene integriert und weder gänzlich verstoßen ist noch ein „Schattendasein“ in einem abgespaltenen Teil des Ichs führen muß. Dies kann nur gelingen, wenn die unausgeglichenen Gefühle des Hasses und der Liebe gegenüber dem Toten in der Vergebung in sich zusammenfallen und eine realistische Einsicht gewonnen wird über die Vorzüge und Schwächen dieses Menschen. Nur wo der Verstorbene in seiner vollen Menschlichkeit angenommen und weder glorifiziert noch verurteilt wird, kann er so in der Welt des Hinterbliebenen aufgenommen werden, ohne daß ein Zwang besteht, um seinetwillen die Realität zu verzerren. Nur so gewinnt er die Wirklichkeit, die sein Überleben im Trauernden sichert.

(8) Chance der Neuorientierung: Mit der Bindung an einen Menschen, sei es ein Ehepartner oder ein Kind, hatte sich der Hinterbliebene für eine mögliche Lebensform entschieden und sich gebunden. Mit dem Tod ist die Chance einer Neuorientierung gegeben. Der Hinterbliebene kann sich in einer positiven Weise von dem Verstorbenen emanzipieren, der bisher stets bestimmend in sein Leben eingegriffen und jede selbständige Verhaltensweise unterdrückt hat. Nicht selten werden z.B. Kinder auch als Erwachsene niemals von ihren Eltern freigegeben, oder ein Ehepartner hat unter dem anderen gelitten, weil dieser keine Chance für eine Entfaltung bot. In solchen Fällen kann der Tod des dominierenden Subjekts dem Trauernden eine Neuorientierung ermöglichen. Es ist durchaus nicht selbstverständlich, daß repressive Beziehungen nach dem Tode aufgegeben werden; der Hinterbliebene mag sich aus Verpflichtung gegenüber dem Toten und seinen Kindern weiterhin gebunden und eingeengt fühlen, ohne eine Änderung herbeiführen zu können. Es gehört jedoch mit zu den Aufgaben der Trauerarbeit, die Chance einer Neuorientierung ernsthaft zu prüfen, auch wenn dies dem Trauernden zunächst als Verrat an dem Verstorbenen erscheint.