Die Abwehrmechanismen in der Trauer

 

Aus: Yorick Spiegel, Der Prozeß des Trauerns, 1973, S. 163-170.

 

Die Mechanismen der Bewältigung, wie sie in dieser Untersuchung genannt werden, finden sich in der psychoanalytischen Literatur allgemein unter dem Begriff der Abwehrmechanismen. Der ältere Begriff war insofern angemessen, als die klassische psychoanalytische Forschung sich vor allem auf die innerpsychische Konfliktsituation konzentrierte und insbesondere mit der Frage beschäftigt war, welche Verteidigungsmechanismen das Ich anwendet, um sich gegen das Andrängen des Es und die Forderungen des Über-Ichs zur Wehr zu setzen. Erst in seinen späteren Jahren sah S. Freud in den Verteidigungsmechanismen Formen der Vermittlung zwischen dem innerpsychischen Apparat und der Außenwelt. So schreibt er in „Die endliche und die unendliche Analyse“ (1937):

„Von allem Anfang an muß ja das Ich seine Aufgabe zu erfüllen suchen, zwischen seinem Es und der Außenwelt im Dienst des Lustprinzips vermitteln, das Es gegen die Gefahren der Außenwelt behüten. Wenn es im Laufe dieser Bemühung lernt, sich auch gegen das eigene Es defensiv einzustellen und dessen Triebansprüche wie äußere Gefahren zu behandeln, so geschieht dies wenigstens zum Teil darum, weil es versteht, daß die Triebbefriedigung zu Konflikten mit der Außenwelt führen würde. Das Ich gewöhnt sich dann unter dem Einfluß der Erziehung, den Schauplatz des Kampfes von außen nach innen zu verlegen, die innere Gefahr zu bewältigen, ehe sie zur äußeren geworden ist, und tut wahrscheinlich zumeist gut daran. Während dieses Kampfes auf zwei Fronten - später wird eine dritte Front hinzukommen - bedient sich das Ich verschiedener Verfahren, um seiner Aufgabe zu genügen, allgemein ausgedrückt, um Gefahr, Angst, Unlust zu vermeiden. Wir nennen diese Verfahren ‚Abwehrmechamsmen’.“

Vor allem die Untersuchung an Kindern und die Stressforschung wandten sich aber zunehmend der Frage zu, wie das Ich bei Konflikten mit der Außenwelt reagiert und mit diesen fertig wird. So spricht etwa Lazarus als Stressforscher von „coping-reaction patterns“. Im folgenden werden Abwehrmechanismen, defensive Mechanismen und Bewältigungsmechanismen synonym gebraucht, um den gesamten Prozeß der Trauerverarbeitung zu bezeichnen. Über Benennung, Zahl und Einordnung der Abwehnnechanismen besteht in der Literatur keine Übereinstimmung. Auch eine zusammenfassende Darstellung der Mechanismen, die bei der Trauerbewältigung verwendet werden, liegt bisher nicht vor. G. Krupp bietet die ausführlichste Aufzählung; er nennt hier Suchen nach dem verlorenen Objekt, Ärger, Verleugnung, Substitution und Identifikation. Hier wird auf Grund der Beobachtungen an dem vorliegenden Material von elf defensiven Mechanismen gesprochen:

(1) Abbau der Realitätskontrolle;

(2) Verleugnen und Verdrängen;

(3) Suchen;

(4) Manie;

(5) Protest;

(6) Suche nach dem Schuldigen;

(7) Identifikation mit dem Aggressor;

(8) Hilflosigkeit;

(9) Erinnern;

(10) Inkorporation;

(11) Substitution.

Einer Anregung von E. Bibring folgend, sind die defensiven Mechanismen zu untergliedern entsprechend den Triebbedürfnissen, gegen die sie sich wenden. Danach würden Abbau der Realitätskontrolle, Verleugnen und Verdrängen, Suchen und Manie zu den narzißtischen, Protest, Suche nach dem Schuldigen und Identifikation mit dem Aggressor zu den aggressiven und Hilflosigkeit, Erinnern, Inkorporation und Substitution zu den objekt-libidinösen Bewältigungsmechanismen gehören. Alle hier genannten Bewältigungsmechanismen haben unterschiedliche Funktionen, je nachdem, ob sie mehr dazu dienen, die Position zu halten, auf die die psychische Organisation regrediert ist, oder mehr dazu dienen, eine Ausgangsbasis zu schaffen, um neue Beziehungen aufzubauen und zu einer Wiederherstellung der bisherigen Funktionsfähigkeit zu kommen. Im ersten Falle, so könnte man mit Miller und Swanson sagen, sind sie einfacher, bringen eine starke Verzerrung der Realität mit sich, sind wenig zielgerichtet und schaffen soziale Schwierigkeiten. Im zweiten Falle sind die Bewältigungsmechanismen eher komplex, verzerren in geringerem Maße die soziale Wirklichkeit, sind stärker auf die Bewältigung ganz spezieller Probleme gerichtet und entsprechen eher den Verhaltenserwartungen und -normen der sozialen Umwelt. Jeder der Abwehrmechanismen, die in der Bewältigung der Trauer eine wichtige Rolle spielen, kann je nach der Funktion, die er erfüllt, entweder stärker regressiven oder stärker adaptiven Charakter haben.

Das hier Gemeinte soll an zwei Bewältigungsmechanismen verdeutlicht werden, dem des Erinnerns und dem der Substitution. Erinnern als regressiver Mechanismus ist ganz auf die Erinnerung des Verstorbenen konzentriert, der Hinterbliebene ist völlig mit ihm beschäftigt, sein Bemühen ist darauf gerichtet, durch die zwanghafte Wiederholung jeder Erinnerung, die mit dem Toten verbunden ist, sich zu versichern, daß der Betreffende nicht tot, sondern nur abwesend ist und jederzeit zurückgeholt werden kann. Zugleich ist die Erinnerung sehr verzerrt, es werden zumeist nur die positiven Züge erinnert: Der Tote wird glorifiziert. Erinnern als adaptiver Mechanismus bringt mit sich, daß ein realitätsgerechtes Bild des Verstorbenen mit seinen Vorzügen und Nachteilen erinnert wird, daß wesentliche Erinnerungen von unwesentlichen geschieden werden, daß der Trauernde seine Erinnerungen nicht mehr allein mit dem Verstorbenen verbindet und von dem Zwang der Wiederholung frei wird.

Gebraucht der Trauernde den Mechanismus der Substitution als einen regressiven, so versucht er, mit großer Intensität sich einen Ersatz für das verlorene Objekt zu schaffen. Er kann sich rasch wiederverheiraten, nur weil der neue Ehepartner entfernte Ähnlichkeit mit dem früheren aufweist, oder sich in einer intensiven Pflege anderer Menschen engagieren, nachdem er das Liebesobjekt nicht mehr länger pflegen kann. Der adaptive Mechanismus der Substitution ist nicht mehr von dem Zwang bestimmt, genau diesen verlorenen Menschen ersetzen zu müssen, sondern macht frei, den neuen eventuellen Ehepartner in realistischeren Perspektiven und in seiner Eigenart und Unverwechselbarkeit zu sehen. Der Trauernde wird dann vielleicht entdecken, daß andere Menschen zu pflegen doch etwas anderes ist, als einen ganz bestimmten geliebten Menschen zu pflegen, und wird sich andere, ihm angemessenere und passendere Tätigkeiten als Ersatz suchen.

Im Trauerprozeß überwiegen anfänglich die narzißtischen Bewältigungsmechanismen, da sie primär darauf ausgerichtet sind, das eigene Ich aufrechtzuerhalten, wenn dies auch mit einer weitgehenden Isolierung von der sozialen Umwelt bezahlt werden muß. Die aggressiven Bewältigungsmechanismen setzen bereits eine gewisse Interaktion zwischen dem Ich, dem verlorenen Liebesobjekt und der Umwelt voraus. In der Endphase des Trauerprozesses dagegen bestimmen die objekt-libidinösen Abwehrmechanismen das Bild; sie sind stärker darauf ausgerichtet, sich der Umwelt und des verlorenen Liebesobjektes zu bedienen, um an einen Wiederaufbau der psychischen Organisation zu kommen.

Regressive Bewältigungsmechanismen haben primär eine entlastende Funktion. Sie erlauben es, die volle emotionale Anerkennung des eingetretenen Objektverlustes zu verschieben und aufzuteilen. Man kann sich z.B. von dem quälenden Problem, ob man nicht selbst den Tod verschuldet habe, für eine Zeitlang befreien, wenn man die Schuld dem behandelnden Arzt zuschiebt; die Glorifizierung des Toten gestattet es, die Aufarbeitung der feindseligen Gefühle, die der Trauernde gegen den Verstorbenen hatte, auf einen späteren Zeitpunkt zu verschieben, an dem das Ich einer realistischeren Bewertung fähig ist und auch die negativen Züge des Verstorbenen als einen Teil seiner Menschlichkeit akzeptieren kann. Die Leugnung des Todes ermöglicht es, erst schrittweise zu einer vollen Anerkennung dessen zu kommen, was verloren ist.

Was Caruso über die innerpsychischen Abwehrmechanismen sagt, gilt auch für die Abwehrform der Regression, die mit dem Verlust des Liebesobjektes eintritt: „Indem die Abwehrmechanismen die Konflikte zu unterdrücken oder zu vermeiden bemüht sind, sind sie sowohl gegen den Triebanspruch als auch für ihn tätig, sowohl gegen den Anspruch der Außenwelt als auch für ihn. Sie sind von Grund auf ambivalent, sie dienen dem Eros und dem Thantos, dem individuellen und dem sozialen Anspruch.“

Dies alles ist im einzelnen noch auszuführen; wichtig ist hier nur zunächst der Gesichtspunkt, daß die regressiven Mechanismen, so wie wir sie hier definiert haben, in ihrer Irrationalität und mangelhaften Realitätsanerkennung zwar die Regression der psychischen Organisation aufhalten können, aber nur um den Preis, daß sie den Trauernden von seiner Umwelt isolieren. Der Trauernde kann nicht damit rechnen, daß sein regressives Verhalten auf längere Zeit gesellschaftliche Duldung findet. Wer anerkannte Realitäten leugnet, wer keine klare Scheidung zwischen Innen- und Außenwelt anerkennt, wer psychische Energien allzu sehr verschiebt und zudem „egozentrisch“ sich nur auf sein eigenes Leiden konzentriert, wird auf die Dauer damit rechnen müssen, als pathologischer Fall eingestuft und entsprechend behandelt zu werden. Selbst in der unmittelbaren Trauerperiode werden solche von der Gesellschaft als irrational definierten Erfahrungs- und Verhaltensweisen oft nicht als legitim anerkannt, was die Kommunikation mit dem Trauernden außerordentlich erschwert. In der Erwartung allgemeiner Mißbilligung wagt er nicht, von Erfahrungen zu reden, die auch für ihn selbst vielfach von bestürzender Natur sind.

Es ist nicht verwunderlich, daß über die regressive Phase sehr viel mehr Material vorliegt als über die adaptive. Das Verhalten des Trauernden in der regressiven Phase weicht stärker vom gewöhnlichen, „normalen“ Verhalten ab und ist daher wesentlich auffälliger; zudem beruhen die Beobachtungen vielfach auf Patienten, denen es nicht gelungen ist, über die regressive Phase hinauszukommen und bei denen deshalb regressives Verhalten persistent geworden ist. Die vorsichtigen Schritte, mit denen ein Trauernder erprobt, wieweit er die volle Realität des Verlustes ertragen kann, die ersten neuen Kontakte, um das Verlorene zu ersetzen, der allmähliche Aufbau der eigenen psychischen Organisation und die Inkorporierung des Verstorbenen sind wesentlich unauffälliger und ihr Gelingen ist weniger gefährdet.

Auf Grund des vorliegenden Materials wird es daher in den folgenden drei Kapiteln vor allem um die Darstellung regressiver Verhaltensweisen unter weitgehender Vernachlässigung der adaptiven Formen gehen. Dies ist aus zwei Gründen von Bedeutung. Einmal kann auf diese Weise ausführlich erläutert werden, welche positiven Funktionen regressive Verhaltensweisen haben können; ein Verständnis für sie kann nicht ohne weiteres bei der sozialen Umwelt als gegeben vorausgesetzt werden. Zum anderen kann, und dies ist ein entscheidender therapeutischer Gesichtspunkt, stärker herausgestellt werden, wie pathologische Trauer sich aus regressivem Trauerverhalten entwickelt.

 

Gesellschaftliche Förderung und Behinderung der Trauerarbeit

 

Die soziale Umwelt des Trauernden (Familie, Freunde, Kollegen) spielt bei der Trauerarbeit eine gewichtige Rolle, nicht weniger wie die gesamtgesellschaftlichen Normen und Verhaltensweisen. Sie können die regressiven und adaptiven Formen der Bewältigungsmechanismen des Individuums sowohl fördern wie hemmen. Die soziale Umwelt kann an den Trauernden Erwartungen über sein Verhalten herantragen, denen er sich in der regressiven Phase noch nicht gewachsen fühlt. Einem Verwitweten eine Wiederverheiratung anzuraten, ist in der adaptiven Phase eine Hilfe; in der regressiven Phase, in der der Trauernde sich noch nicht zureichend von seinem Ehepartner gelöst hat, muß es ihm als Zumutung und als Verrat an dem Verstorbenen erscheinen. Die Angehörigen können aber auch umgekehrt den Trauernden unter ihre ständige Sorge nehmen und auf diese Weise verhindern, daß er zu selbständigem Handeln zurückfindet. Mit der Beendigung der kontrollierten Phase ist der Trauerprozeß sehr wenig strukturiert; die bestehenden allgemeinen Regeln können von der sozialen Umwelt so forciert werden, daß sie der Trauernde als Belastung empfindet. Die soziale Umwelt kann unter dem Gesichtspunkt, daß jeder selbst am besten wissen müsse, was gut für ihn sei, aber auch auf jede Unterstützung verzichten, was wiederum nicht unbedingt hilfreich für den Trauernden ist.

Allgemein wird man sagen können, daß die Gesellschaft als ganze, insbesondere aber der Bereich der Arbeit, wenig Rücksicht auf die psychische Verfassung des Trauernden nimmt. Daß der Trauernde zur konzentrierten Arbeit nicht fähig ist und keine volle Aufmerksamkeit in gefährlichen Arbeits- und Verkehrssituationen aufbringen kann, wird kaum in Rechnung gestellt. Der engere Zusammenhang zwischen Unfall und Trauer ist bisher nicht systematisch untersucht worden; aber eine so sorgfältige Studie wie von R. Silverman zeigt an einer ganzen Reihe von Fallbeispielen, wie das Zusammenfallen von stressvollen Arbeitsbedingungen und der zusätzlichen Präokkupation durch die Trauer Individuen in neurotische Verhaltensstörungen drängt.

Im Folgenden wird bei jedem der zu behandelnden Bewältigungsmechanismen in einem besonderen Abschnitt jeweils geprüft werden, wie weit Normenvorstellung und Praxis der sozialen Umwelt und der Gesamtgesellschaft diesen unterstützen oder behindern.

 

Die dreifache Zielrichtung eschatologischer Aussagen

 

Die Entwicklung der Abwehrmechanismen geht eng mit der Ausbildung religiöser Vorstellungsformen zusammen. Während bisher nur die gemeinsame Genese herausgestellt wurde, soll in den folgenden drei Kapiteln versucht werden, zu jedem der hier behandelten Bewältigungsmechanismen zu erarbeiten, wie Theologie und kirchliche Praxis auf die vom Individuum verwendeten und von sozialer Umwelt und Gesellschaft gestützten bzw. behinderten Mechanismen Bezug nehmen. Es macht sich an dieser Stelle als Schwierigkeit besonders bemerkbar, daß die Theologie sich wenig mit spezifischen psychischen und gesellschaftlichen Abwehrreaktionen beschäftigt hat und keine Untersuchungen über die kirchliche Praxis vorliegen, wieweit sie in Beerdigungsansprache, Liturgie und Gespräch theologisch auf diese Abwehrmechanismen eingeht und sie unter theologische Kriterien stellt.

Vor allem ist es weithin ungeklärt, welche eschatologischen Aussagen für theologisch legitim zu gelten haben, insbesondere, wenn es um das individuelle Todesgeschick und um die Beziehung des Toten zu dem Lebenden geht. Wir betrachten hier nur solche eschatologischen Aussagen als legitim, die einer dreifachen Aussagerichtung gerecht werden: (1) Sie müssen einen Aspekt enthalten, der auf das Kommen des Reiches Gottes hinweist; (2) sie müssen sich kritisch gegen bestimmte repressive gesellschaftliche Verhältnisse und gegen religiöse Vorstellungen wenden, die diese rechtfertigen, entschuldigen oder verhüllen; (3) sie müssen dazu motivieren, die als unhaltbar erkannten gesellschaftlichen Ideologien und Verhaltensweisen und die sie stützenden religiösen Auffassungen und kirchlichen Verhaltensweisen zu verändern.

(1) Der christlichen Eschatologie ist oft und vielfach zu Recht vorgeworfen worden, sie beschränke sich darauf, den Leidenden auf eine bessere Welt zu vertrösten und damit die irdischen Herrschaftsverhältnisse zu stabilisieren. Das „Reich Gottes“ kann so aufgewertet und in leuchtenden Farben geschildert werden, daß der Glaubende veranlaßt wird, dieser Erde untreu zu werden oder in einem überstarken Heilsegoismus alles darauf zu richten, ohne Rücksicht auf das Leid dieser Erde und die Freude, die sie bringen kann, sich allein auf die Erlangung des Himmels zu konzentrieren. Ein bestimmtes eschatologisches Symbol ist aber nur legitim, wenn es nicht nur die Daseinsnegativa präzise beschreibt, sondern auch motiviert, gegen sie anzugehen.

(2) Eschatologische Aussagen dürfen sich andererseits auch nicht darauf beschränken, allein die Daseinsnegativa kritisch zu beschreiben, ohne zugleich eschatologische und praktisch durchführbare Aussagen darüber zu machen, wie die bestehenden negativen gesellschaftlichen Verhältnisse überwunden werden können. Es ist dabei gleichgültig, ob diese Daseinsnegativa als radikaler Unglaube oder totale gesellschaftliche Entfremdung beschrieben werden, hier wird auf ein Wunder gewartet, weil das Elend des Menschen so groß ist, daß nur Gott eine revolutionäre Wendung herbeiführen kann. Es entstehen Wunschphantasien, die ihres realen Hoffnungskerns beraubt sind. Solange die eschatologische Aussage in ihrem utopischen Aspekt sich darauf beschränkt, es werde alles ganz anders sein, und der motivierende Aspekt ohne Zielangabe bleibt und zur spontanen, interpersonalen Hilfe aufruft, kann die entsprechende eschatologische Aussage nicht als theologische anerkannt werden.

(3) Eine eschatologische Aussage ist auch dann unzureichend, wenn sie sich nur auf die Motivation beschränkt, die Welt durch Liebe und Mitmenschlichkeit zu verbessern. Wo nicht präzise spezifische Herrschaftsverhältnisse kritisch angegangen werden können und zugleich keine utopische Zielvorstellung entwickelt wird, hängt die Motivation im leeren Raum. Wo keine „Neue Gesellschaft“ erwartet wird, da „arbeiten die Bauleute vergebens“, d.h., der umfassende Charakter des Gottesreiches kommt nicht mehr zum Zuge. Kurzfristige Aktionen müssen ausreichen, um partikuläre Zielsetzungen abzudecken; es besteht die Gefahr, vorgeblichen technologischen Sachzwängen nachzugeben, die keinen Überschuß an Hoffnungen zulassen.

Zugleich kann die einseitige Betonung des motivierenden Aspektes der eschatologischen Aussage dazu führen, die Daseinsnegativa, seien sie nun Rebellion gegen Gott oder Entfremdung der Gesellschaft, nicht ernst genug zu nehmen. Es mögen die Machbarkeit von Änderungen überschätzt und Mythologeme nicht kritisiert werden, die unbestreitbar notwendige gesellschaftliche Veränderung zu Veränderungen hochstilisieren, die den totalen Umbruch herbeiführen.

Eschatologische Aussagen müssen sich in den drei hier skizzierten Aussagerichtungen der Utopie, der Kritik und der Motivation bewähren. Es muß jeweils geprüft werden, wieweit dies bei spezifischen Aussagen gewährleistet ist und wieweit Korrekturen notwendig und möglich sind; es gibt eschatologische Symbole, die nicht zu halten sind. Ein gutes Beispiel einer in jeder dieser drei Aussagerichtungen vollständigen eschatologischen Aussage gibt E. Jüngel mit dem Symbol der Gleichheit. Als kritische Aussage verweist es auf die Ungleichheit und Entfremdung, unter der die menschliche Gesellschaft steht. Es motiviert, die Gleichheit im gesellschaftlichen Prozeß zu verwirklichen. Es setzt ein utopisches Ziel, das sich kritisch gegen diejenigen wendet, die Gleichheit für ein undurchführbares Ziel halten, wie gegen diejenigen, die diese Gleichheit bereits verwirklicht sehen.

In diesem wie in den nächsten zwei Kapiteln wird in insgesamt elf Abschnitten der Versuch gemacht, zunächst einen spezifischen Bewältigungsmechanismus der individuellen Trauer in seiner regressiven und seiner adaptiven Phase zu analysieren. Als zweiter Schritt werden soziale Faktoren herausgestellt, die diesen Abwehrmechanismus fördern oder behindern können, was oft davon abhängt, in welcher Phase der Trauerarbeit sich der Trauernde befindet. Dabei werden Wertvorstellungen und Verhaltensweisen der übrigen Familienmitglieder, der sozialen Umwelt und der Gesellschaft herangezogen. In einem dritten Schritt wird schließlich versucht, kirchliche Theorie und Praxis in Beziehung zu den jeweiligen defensiven Mechanismen und den gesellschaftlichen Vorstellungen und Verhaltensweisen zu setzen und sie mit diesen zu konfrontieren, wobei Kritik an kirchlicher Theorie und Praxis dort einsetzen muß, wo sie die dreifache Aussagerichtung der Eschatologie verfehlen und Einzelaspekte übersehen oder einseitig betonen.