Der Mechanismus: Abbau der Realitätskontrolle

 

Der Bewältigungsmechanismus: Abbau der Realitätskontrolle ließe sich durchaus unter den des Verleugnens einordnen. Abbau der Realitätskontrolle wird aber hier gesondert behandelt, um den spezifischen Charakter der Wahrnehmungsstörungen hervorzuheben, die als (1) Halluzinationen, als (2) Auditionen und als (3) Gefühl auftreten, der Verstorbene sei präsent. Es legt sich nahe, hier auch (4) die Träume über den Verstorbenen einzuordnen, die möglich werden, weil im Schlaf die Realitätskontrolle stark vermindert ist.

Wahrnehmungsstörungen im Zusammenhang mit dem Verlust des Liebesobjektes gehören zu den Derealisationserfahrungen, die mit dem Trauerprozeß verbunden sind. Die Welt, in der der Trauernde mit dem Verstorbenen lebt, scheint noch nicht tot zu sein, aber sie hat an Realität verloren. Verzerrung der Realität ist ein Versuch, den Toten in der gemeinsamen Welt festzuhalten.

Die Störung der Wahrnehmung bei der Trauer kann sich vollziehen, ohne daß der Tote als lebend wiederkommen würde. Zuweilen erscheinen Dinge und Menschen kleiner oder größer, als sie tatsächlich sind. v. Gebsattel berichtet die Erfahrung einer (allerdings eindeutig depressiven) Patientin, die auch Trauernde gelegentlich machen:

„Die Gesichter der Menschen sehe ich nicht plastisch – das ist so eine Störung des geistigen Sehens – sie sind mir fremd, sie sind so flach wie Pfannenkuchen, genau so flach wie die Bretter an der Wand, auf denen die Gläser stehen, die müßten eigentlich herunterfallen … Die Bretter sind nur Striche, ebenso das Bett, wenn ich darauf sehe – es hat keine Länge und keine Tiefe … Die Menschen, obwohl ich sie noch erfasse, noch meine Menschenkenntnis behalten habe, sind doch wie Luft, die ein- und ausgeht, – gespenstisch – phantomhaft.“

(1) In seinem Beitrag „Die psychische Sehstörung m psychoanalytischer Auffassung“ (1910) hat S. Freud, dort allerdings auf den verdrängten Sexualtrieb bezogen, über Wahrnehmungsphänomene geschrieben: „Es ist die Rache, die Entschädigung des verdrängten Triebes, daß er, von weiterer psychischer Entfaltung abgehalten, seine Herrschaft über das ihm dienende Organ nun zu steigern vermag. Der Verlust der bewußten Herrschaft über das Organ ist die schädliche Ersatzbildung für die mißglückte Verdrängung, die nur um diesen Preis ermöglicht war.“ Freuds Interpretation läßt sich auf das „Sehen“ des Verstorbenen übertragen: Die Bedürfnisbefriedigung im weiteren Sinne und die Interaktion, die von dem Verstorbenen ausging, ist abgebrochen, aber das Unbewußte hat sich nicht damit abgefunden, sondern benutzt gerade die Organe, die wesentlich an der Bildung des Realitätsprinzips beteiligt sind, um sich eine Scheinbefriedigung zu verschaffen.

Nicht selten kommt es bei Trauernden vor, daß sie mit Tätigkeiten für den Verstorbenen beginnen, bevor es ihnen klar wird, daß er nicht mehr da ist, so etwa den Tisch für zwei Personen zu decken. Eine junge verwitwete Frau berichtet Marris: „Ich pflegte den Wasserkessel aufzusetzen und ihm Tee zu machen. Wenn ich nach Hause komme und ihn dort nicht finde, glaube ich, er sei gerade einmal fortgegangen – er ging ziemlich oft abends fort. Wenn bei der Arbeit die Mädchen irgendetwas bereden, dann denke ich gewöhnlich: ‚Das muß ich Harry erzählen, wenn ich nach Hause komme’.“ Es ist gerade der Zeitpunkt der Rückkehr, der Anlaß zu Tagträumen gibt: Der Trauernde hört die Schritte des Verstorbenen auf der Treppe, hört den Kies vor dem Haus knirschen und glaubt, die Tür öffne sich: „Ich sah Kay, wie er innerhalb der Haustür stand. Er sah aus, wie er immer aussah, wenn er von der Arbeit zurückkam. Er lächelte und ich rannte in seine ausgestreckten Arme, wie ich es sonst immer tat, und lehnte mich gegen seine Brust. Ich öffnete die Augen, und das Bild war verschwunden.“ Eine Mutter, die ein Baby verloren hat, mag es im Halbschlaf weinen hören und zu seinem Bett stürzen, bevor sie realisiert, daß dies alles nur ein Wunsch war.

Fast die Hälfte der verwitweten Frauen in einer Gruppe, die C. M. Parkes befragte, gaben an, vor allem in den ersten Monaten nach dem Todesfall immer wieder Personen mißidentifiziert und in ihnen ihren verstorbenen Gatten wiedererkannt zu haben. In vielen Fällen glaubten sie, sein Gesicht in der Menge auf der Straße oder in einem vorüberfahrenden Wagen zu sehen. Eine junge Frau aus Nigeria meinte ihm gegenüber: „Überall, wohin ich sah, sah ich sein Bild. Ganz gewöhnliche Dinge konnten seine Gesichtszüge tragen.“ Mina Curtiss schreibt:

„Zuerst hatte ich die Phantasie, du seist im Zimmer nebenan, daß du es zufällig verlassen hattest, als ich hineintrat. Dann pflegte ich gewöhnlich zu erwarten, dich auf der Straße zu treffen . . . Ein anderes Mal, Alice (sc. eine Freundin Y. S.) und ich waren in einem Süßwarengeschäft, als ein Mann mit deinem Gang, deiner Gestalt, deiner Gesichtsfarbe, deiner Art von Kleidung, sogar mit dem Stil deines Mantels hereinkam, um eine Schachtel Pralinen zu kaufen. Ich würde ihn sofort angesprochen haben, hätte sein Blick nicht einen müden, enttäuschten Ausdruck gehabt, so verschieden von deiner Wachheit und Lebendigkeit. ‚Jack ist gerade zurückgekommen’, sagte ich, ‚der Tod hat ihn müde gemacht. Er kennt mich nicht, aber ich muß sofort mit ihm sprechen’.“

Wenig später verliebt sie sich in einen Mann, der ihrem verstorbenen Gatten ähnlich sieht, bis ihr schließlich deutlich wird, daß er wirklich tot ist:

„Für ein Jahr oder so phantasierte ich mich selbst in eine Liebschaft mit einem Mann, weil irgendetwas im Ton seiner Stimme war, in seinen Handbewegungen, was mich an dich erinnerte. Aber Tonfall und Gesten sind kein Prüfstein für Herz und Geist. Es warst du, den ich liebte, nicht er, und nun, wo ich plötzlich weiß, daß du tot bist, ist meine Freiheit, dich zu lieben, dich selbst und nicht irgendeinen anderen, wiederhergestellt.“

Tagträume sind in den Berichten oft schwer von wirklichen Halluzinationen zu unterscheiden. Wretmark berichtet von einem Fall behinderter Trauer; eine 21 jährige Frau hatte ihren neun Monate alten Sohn verloren. Sie konnte sich zunächst kontrolliert verhalten und ihre Fabrikarbeit nach drei Tagen wieder aufnehmen.

„Die ersten Manifestationen der Trauer (sc. Druck an der Kehle, ein Gefühl der Leere, ein Gefühl der Schwere und drückende Schmerzen an Händen und Füßen) wurden jedoch durch eine apathische Haltung abgelöst und sie fand es zunehmend schwierig, ihre Arbeit zu tun. Arbeiten, die sie früher leicht und nahezu automatisch tun konnte, erschienen nun sehr viel schwerer in dem normalen Ausmaß zu tun, ohne dabei zu denken. Es wurde beobachtet, daß sie sich weigerte, das Bett des Kindes zu entfernen. Kleidung und Spielzeug blieb an der gleichen Stelle. Sie wurde zunehmend still, begann andere Menschen zu meiden, gab Monate später ihre Arbeit auf. In der Zwischenzeit hatte sie fünf Kilo an Gewicht verloren und war körperlich erschöpft. Nach der Aufnahme in die Klinik berichtete sie, sie sähe den Jungen jede Nacht in seinem Bett, aber sobald sie die Arme nach ihm ausstrecke, verschwände er. Manchmal hat sie das bestimmte Gefühl, ihn an ihrer Brust zu haben. Sobald sie nicht in irgendeiner Weise beschäftigt war, gingen ihre Gedanken unmittelbar auf das Kind zurück.“

Besonders häufig berichteten Kinder, die den Vater oder die Mutter verloren haben, in anschaulicher Weise, wie diese am Bettrand sitzen und mit dem Kinde sprechen. Fast die Hälfte der Patienten, die Parkes untersucht hatte, berichteten von ähnlichen Sehstörungen. Oft werden Schatten als Erscheinung des Verstorbenen wahrgenommen.

(2) Nicht ganz selten sind Auditionen; man hört ein Knacken oder Klopfen, von dem man glaubt, es rühre von dem Toten her. Eine Patientin von Parkes berichtet, wenn sie in einem Stuhl säße, habe sie das Gefühl, der Verstorbene streichle ihr Ohr und flüstere ihr zu, sie solle sich ausruhen. In einer anderen Studie berichten verwitwete Frauen u. a., sie hörten ihren verstorbenen Gatten in der Nacht husten oder wachten auf im Glauben, er habe nach ihnen gerufen.

(3) Neben Halluzinationen und Auditionen findet sich fast noch häufiger das Gefühl, der Verstorbene sei präsent. Parkes gegenüber erzählten verwitwete Frauen: „Ich habe immer noch das Gefühl, er ist in der Nahe, und da ist irgendetwas, was ich für ihn tun soll oder ihm erzählen soll ... Er ist mit mir jederzeit. Ich höre ihn und sehe ihn, obgleich ich weiß, daß es nur eine Vorstellung ist“; „wenn ich meine Haare wasche, dann habe ich das Gefühl, er ist da und beschützt mich, im Falle, jemand käme durch die Tür.“ Für einige ist die Gegenwart des Toten besonders stark an seinem Grab. In dem bereits früher genannten Roman von J. Agee wird eine solche Erscheinung des bei einem Autounfall umgekommenen Ehemannes beschrieben:

„Es schien für Mary (sc. der verwitweten Ehefrau Y. S.), wie für Hannah (sc. einer Tante Y. S.), daß da jemand im Hause war, der nicht zu ihnen gehörte. Sie dachte an die Kinder; sie hätten aufgewacht sein können. Aber obgleich sie so intensiv lauschte, wie sie konnte, sie war nicht sicher, ob es überhaupt ein Geräusch war, und wer immer oder was immer es sein mochte, sie wurde zunehmend sicher, daß es nicht ein Kind sein konnte, denn sie fühlte darin eine schreckliche Kräftigkeit, ein Betroffensein, eine Ruhe, die nicht von einem Kind ausgehen konnte. ‚Da ist etwas’, flüsterte Andrew (sc. ein Onkel Y. S.). Was immer es sein mochte, es blieb keinen Augenblick ruhig an einer Stelle. Es war im Nebenzimmer; es war in der Küche; es war im Eßzimmer

Als sie (sc. Mary Y. S.) durch die Tür in das Kinderzimmer kam, konnte sie seine Gegenwart so stark im ganzen Raum spüren, als hätte sie eine Ofentür geöffnet: die Gegenwart der ganzen Kraft seiner Männlichkeit, von Hilflosigkeit und reiner Ruhe. Sie fiel mitten im Zimmer auf den Fußboden und flüsterte: ‚Jay. Mein Liebling. Mein einziger Liebling. Es geht dir gut, Liebling. Du brauchst dir keine Sorgen mehr zu machen, nicht wahr, mein Liebling? Überhaupt keine mehr, niemals mehr, Liebster. Ich kann fühlen, wie es um dich steht, ich weiß es, Liebster. Es ist schrecklich, fortzugehen. Du willst es nicht. Natürlich willst du nicht. Aber du mußt es tun. Und du weißt, es wird ihnen gut gehen. Alles wird gut gehen, mein Liebling. Gott nimmt dich auf. Gott behält dich, mein geliebter Mann. Gott läßt Sein Licht auf dich scheinen’. Und während sie flüsterte, begann seine Gegenwart schwächer zu werden, und in einem Augenblick schrecklicher Angst schrie sie auf ‚Jay!’ und rannte zu der Wiege ihrer Tochter. ‚Bleib bei mir noch eine Minute’, flüsterte sie, ‚nur eine Minute, mein Liebling’; und von irgendeiner Gewalt getrieben, kam er zurück; sie fühlt ihn zusammen mit ihr das Kind betrachten …

‚Sei mit uns allen, wenn du es kannst’, flüsterte sie. ‚Dies ist der Abschied’. Und wieder ging sie in die Kniee. ‚Auf Wiedersehen’, wiederholte sie in sich selber; aber sie war nicht fähig, allzuviel zu fühlen. ‚Gott helfe mir, es wirklich wahrzunehmen’, flüsterte sie und schlug die Hände vor ihr Gesicht: Aber sie konnte nur spüren, wie er dahinschwand, und daß dies wirklich der Abschied war, und daß sie in diesem Augenblick unfähig war, dies in einer besonderen Weise zu spüren. Und dann war es völlig aus dem Raum gegangen, aus dem Haus, und aus dieser Welt.“

(4) Zu der Kategorie des Mechanismus, durch Abbau der Realitätskontrolle den Verlust abzuwehren, gehören auch die Träume über den Verstorbenen. In der Untersuchung von Gorer erinnerten sich etwa 40% der Befragten an solche Träume, wobei verwitwete Frauen im Durchschnitt häufiger Träume über den Verstorbenen hatten als die untersuchte Gruppe der Verwitweten insgesamt. Freud hat mehrfach auf die Traumserie hingewiesen, mit denen Konflikte angedeutet und bewältigt werden. Im Traum des Trauernden wird ein bemerkenswerter Kompromiß geschlossen zwischen dem Wunsch, der Verstorbene möge wieder lebendig sein, und der Anerkennung der Realität, daß er verloren ist.

Für den psychoanalytisch Geschulten sind die Träume von Trauernden ein wichtiger Hinweis über den Verlauf der Trauerarbeit. Die ständige Wiederholung des gleichen Traumes kann andeuten, daß aus einem zunächst nicht ersichtlichen Grunde der Trauerprozeß behindert ist und sich nicht fortentwickeln kann. Träume, in denen der Verstorbene in angsterregender, drohender oder entstellter Form erscheint, deuten im allgemeinen auf Ambivalenzkonflikte hin, die zwischen dem Verstorbenen und dem Trauernden bestehen. Spätere Träume, die den Verstorbenen in freundlicher Gestalt erscheinen lassen, geben zu der Hoffnung Anlaß, daß die Feindseligkeit zugunsten eines positiven Gefühles sich aufzulösen beginnt und der Trauerprozeß zu einem positiven Abschluß kommt. Ch. Andersen schildert die Traumserie eines Mannes, der seine Frau bei einem deutschen Bombenangriff auf England verloren hatte. Seine pathologischen Trauerreaktionen machten eine Hospitalisierung notwendig. Im Verlauf seiner Wiederherstellung kam es zu der folgenden Traumfolge.

„Während der ersten Zeit seiner Erkrankung erschien seine Frau als verletzt, bedeckt mit Schutt und voll ständiger Vorwürfe für seine Verzögerung, ihr zu folgen; ohne Ende beschuldigte sie ihn, er habe sie getötet. Was besonders auffiel, war die Tatsache, daß auch alle anderen Dinge, die er in seinem Hause schätzte, wie verletzt erschienen, krank und rachsüchtig. Alle seine vier Kinder, die in Wirklichkeit bei guter Gesundheit waren, erschienen in seinen Träumen in verschiedensten Formen der Entstellung. Sein ältester Sohn, von dem er wußte, daß es ihm gut ging, erschien in seinen Alpträumen als ertrunken, verkrüppelt und mit einer zerstörenden Krankheit behaftet … Selbst der Haushund, an dem der Patient sehr hing und der bei guter Gesundheit war, erschien als krank, räudig, abgezehrt und böswillig. Allmählich und über die Monate wandelten sich Inhalt und Gefühlsausdruck der Träume. Seine Frau wurde gesund und freundlich, sowohl die Kinder wie der Hund verloren ihre Böswilligkeit. Zur gleichen Zeit ging es meinem Patienten immer besser.“

Ch. Anderson teilt die Träume der Trauernden in zwei Gruppen ein. In der einen ist die tote Person von neuem lebendig und gesund, und die vergangenen glücklichen Erfahrungen können wiederholt werden. In der anderen Gruppe erscheint der Tote als verletzt und verletzend, verfolgt oder verfolgend, er trägt das Leichenkleid und hat die Zeichen seiner Krankheit oder seiner Verletzung an sich. Er ist darauf ausgerichtet, den Träumenden zu zerstören, oder dieser vollführt die schrecklichsten Taten gegen den bereits Verletzten. Anderson glaubt daraus schließen zu können, daß im ersten Fall eine überwiegend harmonische Beziehung zwischen dem Verstorbenen und dem Hinterbliebenen bestand und die Trauer einen angemessenen Verlauf nimmt, während die Trauerarbeit in der zweiten Gruppe der Träumenden offensichtlich durch den Ambivalenz-Konflikt belastet und der Ausgang unsicher ist.

Das Ausbleiben von Träumen nach einem Trauerfall ist ebenfalls ein gewisses Anzeichen, daß, weil der Verlust so schwerwiegend ist, der Trauerprozeß nicht in Gang kommt; der Trauernde verhält sich in seinem Traum, als sei nichts geschehen. So hatten nach Gorer keine der sechs Eltern, die ein heranwachsendes Kind verloren hatten, irgendwelche Träume. Auch Kinder haben oft trotz ihrer sonst vielfältigen Traumaktivität nach dem Tode der entscheidenden Pflegeperson einen traumlosen Schlaf. Zuweilen schaffen sich die unterdrückten Träume gewaltsamen Ausdruck, wie Gorer von einem Ladenhändler berichtet, der nach dem Tode seiner Frau niemals von ihr geträumt hatte:

„Ich konnte nicht einschlafen, nachdem meine Frau gestorben war. Ich war oben im Haus, nachdem sie gestorben war, und hatte das Fernsehen zum ersten Mal an, nachdem sie gestorben war; und plötzlich sah ich meine Frau, als sei nichts geschehen, in einem dieser Sessel sitzen. Ich floh die Treppe herunter und bin nie mehr in dies Zimmer gegangen. Es war sehr erschreckend. Es ist ein so hübscher Raum.“

Es kann weiter sein, daß der Verleugnung des Todes durch destruktive Träume quälend widersprochen wird. Die Träume können in aggressiver Weise immer wieder den Tod präsentieren, indem die vorgeblich nicht Gestorbenen sich mit äußeren Verletzungen zeigen oder bei Unfällen ums Leben kommen. Die aktuelle Bestattung, aber auch andere Beerdigungen werden immer von neuem geträumt. Der Traum spricht gewissermaßen den Wunsch aus, den Toten sterben zu lassen und ihm seine Ruhe zu geben, die ihm durch die Verleugnung seines Todes vorenthalten wird. Die Realität des Todes kann im Traum auf verschiedene Weise anerkannt werden. G. K. Krupp berichtet folgenden Fall:

„Frau C., 40 Jahre alt, war mit einem sehr viel älteren Mann verheiratet, doch die Ehe war glücklich. Ihr Gatte starb sehr plötzlich. Sie war außerordentlich von der Trauer überwältigt. Noch innerhalb achtundvierzig Stunden träumte sie: ‚Er erschien, und ich hatte Zahnschmerzen. Ich erzählte es ihm. Er war sehr besorgt, wie ein Vater. Ich zeigte nach hinten, als ob dort irgendetwas repariert werden konnte’. Die Patientin wachte auf und war aufs äußerste enttäuscht, als sie merkte, daß es sich nur um einen Traum gehandelt hatte.“

In diesem Fall wird die Realität des Todes durch das Aufwachen herausgestellt; es gilt hier, was Freud über den Angsttraum sagte: „Wir pflegen den Schlaf zu unterbrechen, ehe der verdrängte Wunsch des Traumes seine volle Erfüllung gegen die Zensur durchgesetzt hat.“ Zwar ist die Leistung des Traumes mißglückt, aber sein Wesen hat sich darum nicht verändert. In einem anderen Falle, den G. K. Krupp beschreibt, wird ein ähnlicher Traum immer wiederholt, unterbrochen durch Erwachen, das mit erheblicher Enttäuschung verbunden ist. Wie von einem Nachtwächter wird der Schlafende geweckt, wenn eine Wahrnehmungsstörung droht, die die Traumzensur nicht allein vertreiben kann.

Andere Formen der Realitätsanerkennung im Traum bestehen darin, daß der Verstorbene als schwach und krank erscheint. Zuweilen weiß der Träumende, daß der im Traum Erscheinende wirklich tot ist, ist aber traurig darüber, daß dies der Betreffende offenbar noch nicht zu wissen scheint. Manchmal erscheint der Verstorbene zwar als lebend, ist aber auf irgendeine merkwürdige Weise nicht ansprechbar und wie abwesend. Im allgemeinen erfüllen die Träume, wie Gorer beobachtet hat, ihre positive Funktion als Bewältigungsmechanismen. In nahezu allen Fällen waren die Träume tröstlich (negative Träume richteten sich mehrfach gegen tote Eltern). Zumeist wurde der Verstorbene jünger gesehen, als er bei seinem Tode war. Es wiederholen sich freundliche Gespräche, und gemeinsame Aktivitäten werden erinnert. Ein 72jähriger Fliesenleger erzählte Gorer:

„Ich träume auch über sie, sie kommt oft zu mir, wissen Sie; wir lachen miteinander und so; wir sind ständig zusammen und arbeiten zusammen in meinen Träumen. Weil wir manchmal zusammen draußen auf dem Feld vor vielen Jahren arbeiteten, und gewöhnlich hatten wir viel Spaß und machten Albereien draußen in den Feldern; und ich sehe sie in diesem Feld, Sie verstehen, und die Spielereien, die wir gewöhnlich machten.“

Wie der Traum den Trauernden Trost bringen kann, den Verstorbenen wiederbelebt und den Trauernden mit diesem vereinigt, alle diese Motive faßt der letzte Vers des berühmten Gedichtes Edgar A. Poes von der „schönen Annabel Lee“ zusammen, die dem Liebenden geraubt wurde:

For the moon never beams without bringing me dreams

Of the beautiful ANNABEL LEE;

And the stars never rise but I see the bright eyes

Of the beautiful ANNABEL LEE;

And so, all the night-tide, I lie down by the side

Of my darling, my darling, my life and my bride,

In her sepulchre there by the sea

In her tomb by the side of the sea.

Die Halluzinationen und Auditionen wie auch das Gefühl der Präsenz des Verstorbenen und die Träume über ihn gehören überwiegend der regressiven Phase der Trauerbewältigung an. Wie Caruso sagt, tritt an die Stelle des Geliebten „ein Bild des Geliebten ein verblaßtes Bild, ein aufgewertetes Bild, zugleich auch ein abgewertetes Bild, aber kein wirklich lebendiges mehr“. Ähnlich klagt Clerk darüber, sich nicht an das Gesicht seiner verstorbenen Ehefrau erinnern zu können. Er erklärte es jedoch so:

„Wir haben die Gesichter von denen, die wir am besten kennen, so unterschiedlich gesehen, von so vielen Seiten, in so verschiedener Beleuchtung, mit so vielen Gesichtsausdrückenwachend, schlafend, lauschend, weinend, essend, sprechend, denkend so daß all diese Eindrücke sich in unserer Erinnerung übereinander häufen und in eine bloße Verschwommenheit hinein aufheben.“

Ähnliches läßt sich vom Traumprozeß sagen. Anfänglich sind die Träume sehr lebhaft und deutlich, werden aber in der adaptiven Phase zunehmend blasser und undeutlicher.

 

 

Yorick Spiegel, Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung (1973), München: Kaiser 21973, S. 170 ff.