Ich beginne mit einer Geschichte:
1943, vor 60 Jahren also, waren in Amsterdam jüdische Bürger
in einen Güterwaggon zum Abtransport eingepfercht worden. Darunter auch eine
junge Frau, die im Waggon wahnsinnig vor Angst herumstarrte. Schließlich
sah sie ihren Rabbi, stürzte sich nieder, umschlang seine Knie und schrie:
„So hilf doch Rabbi, so hilf doch!“
Der Rabbi, selbst vor Angst gelähmt, sprach gütig zu der Frau:
„Erinnerst du dich nicht? Erinnere dich doch an das Geheimnis unseres
Volkes, an das Geheimnis vom Roten Meer. Wir konnten nicht seitlich am Meer
vorbeigehen, wir konnten nicht über das Meer hinübergehen und wir
konnten nicht unter dem Meer hindurchgehen. Wir mussten in das Meer
hineingehen. Und das Wunder geschah: Die Wasser teilten sich!“ Er legte
seine Hand auf ihren Kopf. „Erinnere dich doch und gehe hinein in das
Meer und sei gewiss des kommenden Wunders.“ Und das Wunder geschah: Die Frau
wurde ruhig aufgrund ihrer Erinnerung und ging gefasst in das Meer hinein.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Mitbürger Ratzeburgs!
Erinnerung schafft Wunder, so entnehme ich dieser Geschichte. Wahrscheinlich fragen
Sie sich, warum ich meine Ansprache zum heutigen Volkstrauertag ausgerechnet
mit einer solchen Geschichte beginne: mit der Erinnerung an eine Rettung, an
die Rettung aus Not und Gefahr – damals beim Auszug des Volkes Israel aus
Ägypten und Jahrhunderte später bei der Zumutung, in das Meer
menschlich zugedachter Vernichtung zu gehen.
Wir erinnern uns heute am Volkstrauertag ja nicht in erster Linie an
Errettung, sondern an Zerstörung und Vernichtung, an Vertreibung und
millionenfaches Unrecht, an den Tod so vieler Menschen. Ich möchte aber
mit dieser Geschichte daran erinnern, dass manche, ja wahrscheinlich viele
dieser Menschen damals mit der Erinnerung an eine Hoffnungsgeschichte gestorben
sind. Sie wurden wohl getötet,
nicht aber ihre Hoffnung.
Wir gedenken heute der Millionen gefallener Soldaten aller Nationen. Wir
gedenken derer, die allein ihrer Herkunft wegen ermordet wurden: der Juden,
Sinti und Roma, der Homosexuellen und Geisteskranken. Wir gedenken der
Männer und Frauen des Widerstandes, der Flüchtlinge und Vertriebenen
aller Nationen. Wir gedenken der Toten in über 300 Kriegen seit 1945. Wir
gedenken der Opfer des Terrorismus heute.
Bei diesem Gedenken geht es mir darum, dass wir Lebenden auch die
Erinnerung dieser Sterbenden erinnern. Viele sind nämlich mit
Hoffnungserinnerungen gestorben. Das kann für uns Lebende Vorbild sein.
Verstehen Sie, ich möchte auffordern, dass wir uns der
Lebenshoffnung und Hoffnungserinnerung der Ermordeten, Getöteten und
Gefallenen erinnern. Das sind wir ihnen schuldig. Unsere Erinnerung soll ihre
Lebenshoffnung wieder lebendig werden lassen. So wie wir uns Dietrich
Bonhoeffers, Maximilian Kolbes, Graf Stauffenbergs und all der anderen tapferen
Menschen erinnern, so sollten wir uns auch der Millionen Ermordeter,
Getöteter und Gefallener erinnern. Im Grunde waren auch sie fast alle
Widerstandskämpfer, denn sie widerstanden dem Tod, sie gingen hinein in
jenes verschlingende Meer, von dem der Rabbi der jungen Frau erzählte, und
erlebten auf einer ganz tiefen Ebene, die wir nur mit den Augen des Glaubens
sehen können, das Wunder ihrer Errettung. Denn Menschen können
einander wohl das leibliche Leben nehmen, aber die Seele der Getöteten ist
doch aufgehoben bei Gott. So geschieht es immer wieder, so rettet Gott auch
noch durch den Tod hindurch.
Wenn wir den Lebensmut der Ermordeten, Getöteten und Gefallenen
erinnern, dann wird unser heutiges Gedenken am Volkstrauertag nicht einfach
routiniert und rituell sein, nicht oberflächlich und folgenlos bleiben,
sondern gebiert neue Hoffnung: Die Erinnerung an den Rabbi und die junge Frau
im Waggon von Amsterdam beschämt und befreit uns zugleich.
Jesus von Nazareth saß vor 2000 Jahren auf einem Berg und sprach
die Seligpreisung: „Selig seid ihr Trauernden“, und er fügte
hinzu, „denn ihr werdet getröstet werden.“
Wer trauert ist glücklich!? Wirklich? Interessant ist, dass Jesus
mit Trauern ein kollektives, gemeinsames Trauern meinte. Er sprach
diejenigen an, die über das Unrecht und die Grausamkeit ihres Volkes
Israel und Palästina trauerten. Man könnte sagen: Jesus sprach zum
Volkstrauertag. Und diesen Trauernden sprach er nun Seligkeit und Trost zu.
Wieso? Weil sie ein Gespür für eine bessere Gerechtigkeit hatten;
weil sie ein Unrechts- und Rechtsbewusstsein besaßen; weil sie
überzeugt waren, dass es keine „gerechten“ Widerstands- und Verteidigungskriege
gibt; und weil sie ihre Trauer über das Unrecht ihres Volkes vor Gott
brachten.
Sie waren fähig zu kollektiver Trauer. Sie praktizierten das, was
der Prediger Salomo schon 300 Jahre vor Christus gesagt hatte: „Durch
Trauern wird das Herz gebessert.“ Deshalb nannte Jesus sie selig und
sprach ihnen Tröstung zu.
Vor 40 Jahren noch bescheinigte Alexander Mitscherlich den Deutschen die
„Unfähigkeit zu trauern“. Wir seien Weltmeister im
Verdrängen von Schuld. Seit dieser Zeit hat sich meines Erachtens vieles
geändert. Wir haben inzwischen gelernt, nicht bloß passiv, sondern
auch aktiv zu trauern. Die vielen Gedenkstätten in unserem Lande mit ihren
eindrucksvollen Dokumentationen sind ein beredtes Zeugnis dafür. Es ist
keine ohnmächtige, sondern eine durchaus machtvolle und wirksame Trauer.
Sie lähmt nicht, sondern sie spornt zum verantwortlichen Friedensstiften
an. Alexander Mitscherlich würde seine Klage von 1962 heute, 40 Jahre
danach, sicherlich so nicht wiederholen. Seine Klage hat ja auch Wirkung
gezeigt. Viele Deutsche sind heute wirklich fähig, gemeinsam zu trauern
und Schritte des Friedens zu gehen.
Trauer, die aus Erinnerung an schreckliche Zeiten resultiert, sollte in Mahnung
zum Frieden und zur Versöhnung übergehen. Das Wort
„Mahnung“ hat zwar einen negativen Beigeschmack und riecht nach
moralischem, besserwisserischem Zeigefinger. Ich verstehe Mahnung aber anders.
Eine chassidische Geschichte bringt das zum Ausdruck:
Ein Rabbi fragte seine Schüler: „Wann beginnt der Tag?“
Etwas gequält schauten sich die Schüler an. „Na ja, wenn die
Dunkelheit weicht“; „wenn die Sonne aufgeht“, „wenn der
Mond verschwindet“, „wenn der Morgentau reift“, lauteten ihre
Antworten. „Nein“, antwortete der Rabbi, „der Tag fängt
erst richtig an, wenn jeder in den Gesichtern seiner Mitmenschen Bruder und
Schwester erkennt“.
Dieser Rabbi mahnte nicht mit erhobenem Zeigefinger zur
Brüderlichkeit und Geschwisterlichkeit; sondern er trug dieses Bildwort
vor: Nur wenn ich in meinen Mitmenschen, so meinte er, Brüder und Schwestern
entdecke, d.h. wenn ich entdecke, dass sie Menschen sind wie ich, kann ich auf
Gewalt verzichten, Krieg als Mittel der Politik ächten, Zivilcourage
für Entrechtete entwickeln und Toleranz gegen das Fremde üben.
Freilich: Angesichts von Terrorismus und Gewalt fragen wir uns manchmal:
Ist das überhaupt möglich, in allen und jedem Mitmenschen Geschwister
zu entdecken? Wohl kaum! Damit das aber trotzdem möglich wird, müssen
wir in den Menschen zwischen geschöpflicher Person und situativer Tat
unterscheiden.
In der geschöpflichen Person erkenne ich Bruder und Schwester,
nicht in der jeweiligen Tat. Die Person ist wie ich, nicht aber die einzelne
Tat. Martin Buber sagte deshalb ausdrücklich: Liebe deinen Nächsten
als geschöpfliche Person; er ist wie Du, eine Person!
Das heißt konkret politisch: Wir sollten zwischen böser Tat
und geschöpflicher Person unterscheiden. Noch konkreter: Wir müssen
unbedingt den Rassismus ächten, aber nicht die Menschen verachten, die ihn
törichterweise vertreten. Wir müssen den Terrorismus bekämpfen,
aber rechtsstaatlich und menschlich mit Terroristen umgehen. Wir müssen
Fanatismus überwinden, dürfen aber Fanatiker nicht gleich mit vernichten
wollen. Wir müssen wohl auch bestimmte Verbrechen der Wehrmacht anprangern,
nicht aber alle Wehrmachtssoldaten als geschöpfliche Personen durch unser
Urteil verachten. Das ist ein Balanceakt, der aber gerade in unserem
Rechtsstaat möglich ist. Die Würde jedes Menschen als
geschöpfliche Person ist unantastbar, heißt es in unserem Grundgesetz.
Gemeinsames Erinnern kann Schuldeingeständnis, Scham und
Befreiung bewirken. Gemeinsames Trauern kann in den Kampf für eine
bessere Gerechtigkeit einmünden. Und gemeinsames Mahnen kann zum
Respekt vor der Geschöpflichkeit und Würde jeder Person führen.
Erinnern, Trauern, Mahnen. Tun wir alles, damit diese Möglichkeit
Wirklichkeit wird.
Und nun wollen wir der Toten gedenken:
Wir denken heute
an die Opfer von Gewalt und
Krieg,
Kinder, Frauen und Männer
aller Völker.
Wir gedenken
der Soldaten, die in den
Weltkriegen starben,
der Menschen, die durch
Kriegshandlungen
oder danach in Gefangenschaft,
als Vertriebene
und Flüchtlinge ihr Leben
verloren.
Wir gedenken derer,
die verfolgt und getötet
wurden,
weil sie einem anderen Volk angehörten,
einer anderen Rasse zugerechnet
wurden
oder deren Leben wegen einer
Krankheit oder
Behinderung als lebensunwert
bezeichnet wurde.
Wir gedenken derer,
die ums Leben kamen, weil sie
Widerstand
gegen die Gewaltherrschaft
geleistet haben,
und derer, die den Tod fanden,
weil sie an
ihrer Überzeugung oder an
ihrem Glauben
festhielten.
Wir trauern
um die Opfer der Kriege und
Bürgerkriege
unserer Tage, um die Opfer von
Terrorismus
und politischer Verfolgung.
Wir gedenken heute auch derer,
die in diesem Jahr bei uns durch
Hass und
Gewalt gegen Fremde und Schwache
Opfer
geworden sind.
Wir trauern
mit den Müttern und mit
allen, die Leid
tragen um die Toten. Aber unser
Leben steht
im Zeichen der Hoffnung auf
Versöhnung
unter den Menschen und Völkern,
und
unsere Verantwortung gilt dem
Frieden unter
den Menschen zu Hause und in der
Welt.